Claude Debussy (1862–1918)

Eines der herausragenden Qualitätsmerkmale der Henle-Editionen besteht ja darin, dass bei jedem anstehenden Nachdruck kontrolliert wird, ob im Noten- oder in den Worttexten etwas korrigiert, getilgt oder ergänzt werden muss. Eine ähnliche Überprüfung findet selbstverständlich auch dann statt, wenn Werke in anderer Form neu herausgegeben werden. Dies trifft nun auch für das kürzlich erstmals als Einzelausgabe aus dem Sammelband Klavierstücke (HN 404) erschienene frühe Klavierstück Nocturne (HN 1087) zu. Ernst-Günter Heinemann steuerte jetzt nicht nur ein erheblich erweitertes Vorwort bei, sondern ergänzte auch eine Bemerkung (auf die zusätzlich durch eine Fußnote im Notentext hingewiesen wird) – und damit sind wir mitten im Thema dieses zweiten Teils unserer Reihe „Debussy im Urtext“. Es behandelt ein Phänomen, das zwar nicht nur, aber doch in besonderer Weise bei Debussy zu Tage tritt: eine unklare Harmonik, die sich nicht eindeutig auflösen lässt.

Zu Nocturne, das 1892 von Paul Dupont zuerst in der Augustnummer von Figaro musical, später auch selbständig in dessen Verlag veröffentlicht wurde, hat sich kein Autograph erhalten.

Titelblatt der Erstausgabe

Wir sind daher auf die Erstausgabe als einzig verfügbare Quelle angewiesen (alle weiteren Drucke zu Lebzeiten Debussys blieben unverändert). Konkret geht es um eine Passage aus dem Mittelteil des Stücks, der im 7/4-Takt notiert ist (durch die gestrichelte Linie als zusammengesetzter 4/4- + 3/4-Takt gekennzeichnet).

Takte 38–48 der Erstausgabe

Schon auf den ersten Blick kommt der Verdacht auf, dass Vorzeichen fehlen. Dies geht offenbar weniger auf Stichfehler als auf unklare Notierung im verlorenen Autograph zurück; denn mal behandelte Debussy die gestrichelte Linie wie einen normalen Taktstrich (siehe das erneute ♯ vor dis1 in Takt 46, Zählzeit 5), mal aber auch nicht (siehe Takt 41, wo auf Zählzeit 6 zweifellos cis1, nicht c1 stehen muss, Debussy aber ♯ nicht neu setzte).

Die Ergänzung der Kreuze (♯) vor c1 in Takt 40, Zählzeit 4 und 6 sowie in Takt 41, Zählzeit 6 sowie umgekehrt der Auflösungszeichen (♮) in Takt 44, Zählzeit 7 (damit sich keine Akkordwiederholung ergibt, die sonst überall gemieden wird) sind noch relativ klar, da es Referenzakkorde gibt (vgl. den mehrfach auftauchenden Akkord facis). Dagegen ist die Vorzeichensetzung für Zählzeit 7 in den Takten 39–41 sowie 45–46 nicht eindeutig bestimmbar. Harmonisch sind hier tatsächlich mehrere Lösungen mit c/es, cis/es oder cis/e denkbar. Unsere Edition, in der wie üblich alle ergänzten Vorzeichen in runden Klammern stehen, bietet folgende Lösung an:

Takte 39–48 der Henle Urtextausgabe

Im Bemerkungsteil wird nun ausdrücklich betont, dass diese Ergänzungen nur eine Empfehlung darstellen und andere Ausgaben zu abweichenden Lösungen kommen:

Die Frage der Vorzeichen lässt sich philologisch nicht eindeutig klären (es sei denn, es tauchte das verschollene Autograph wieder auf), aber selbst unter rein musikalischen Gesichtspunkten bleiben die Stellen mehrdeutig. Denn Debussy benutzt hier die Harmonik nicht mehr als Modulationsmittel im Sinne der „varietas“ der traditionellen Kompositionslehre, sondern als klangliches Phänomen, dessen Verlauf zwar nicht regellos ist, aber keinen strikten Normen mehr folgt.

Mit anderen Worten: Hier können wir den Musikern keinen eindeutigen Urtext bieten, sondern lediglich eine Lösung vorschlagen und zugleich mit Nachdruck auf die Problematik der Stellen hinweisen.

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