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Medizingeschichte

Eine Endemie als Ursprung des Vampiraberglaubens

Der Untote, das muss ein Wiener sein! Oder so ähnlich, denn wenig bekannt ist, dass die bis heute bestehende Vorstellung des Vampirs auf historische Schriftstücke zurückgeht, die immer noch im Wiener Hofkammerarchiv aufliegen und schon Bram Stoker zu seinem „Graf Dracula“ inspirierten – und den renommierten Gerichtsmediziner Prof. Dr. Christian Reiter zu einem Vortrag im Rahmen der Wiener Medizinischen Tage der Ärztekammer für Wien.

Lisa Lukitsch-Dittlbacher
Gelegentlich kann es passieren, dass Seuchen der Initiator für kulturgeschichtlich interessante Entwicklungen sind, die über Jahrhunderte noch ihre Nachwirkungen haben können.

Darin hat Reiter eindrücklich die Ursache der „Vampyrseuche“ aus heutiger medizinischer Sicht identifiziert und die Wurzeln des Vampiraberglaubens als Folge des Verhaltens der Wiener Militärärzte aufdeckt. Eine medizinhistorische Detektivgeschichte.

„Seuchen stellen, egal wann sie entstehen, eine massive Belastung für die Ärzteschaft und das Pflegepersonal dar, bringen aber auch einen massiven wissenschaftlichen Input und eine Weiterentwicklung des medizinischen Fachwissens mit sich“, so Prof. Dr. Christian Reiter einleitend. Mehr als 40 Jahre war er hauptberuflich am Gerichtsmedizinischen Institut in Wien tätig, seit seiner kürzlich angetretenen Pension ist er nach wie vor als Sachverständiger tätig und berichtet in seinen Vorträgen über forensische Fälle, die Geschichte schrieben, denn: „Gelegentlich kann es auch passieren, dass Seuchen der Initiator für kulturgeschichtlich interessante Entwicklungen sind, die über Jahrhunderte noch ihre Nachwirkungen haben können.“

Blut als „Mittler zwischen Leben und Tod“

Begonnen hat alles mit einer Riesen-„Sauerei“ vor mehr als dreitausend Jahren: Als Odysseus auf der Suche nach dem Weg nach Hause war, kam er auf die Insel der Zauberin Circe, die seine Besatzung in Schweine verzauberte. Odysseus konnte die Zauberin „becircen“, ihn letztlich doch wieder freizugeben und ihm mitzuteilen, wie er den Heimweg findet. Laut Circe sollte er an die Gestade des Hades fahren und dort den Seher Teiresias ausfindig machen, der könne ihm den Weg sagen. Um mit dem verstorbenen Teiresias Kontakt aufzunehmen, müsste er ein Schaf schlachten und das Blut in eine Mulde ergießen: Tereisias würde kommen, das Blut trinken und durch das Blut, als Mittler zwischen den Lebenden und den verstorbenen Seelen, wäre es möglich, mit den Toten Kontakt aufzunehmen. Und tatsächlich: Teiresias trinkt vom Blut und kann Odysseus mitteilen, wie er nach Hause kommt.

„Diese fast 3.500 Jahre alte Geschichte zeigt, dass am Balkan und in der hellenistischen Welt seit Jahrtausenden der Glaube bestand, dass das Trinken von Blut durch Verstorbene es ermöglicht, dass die Toten mit der Welt der Lebenden in Interaktion und Kontakt treten können“, leitet Reiter seinen Vortrag mit der bis heute bekannten griechischen Sage ein.

Untote an der habsburgischen Ostgrenze

Ein Zeitsprung in das Jahr 1683: Nach der erfolgreichen Beendigung der Türkenbelagerung der Stadt Wien 1683 und dem Zurückdrängen der Osmanen in den Osten und dem III. Türkenkrieg mit der Eroberung Belgrads wurde 1718 der Frieden von Passarowitz geschlossen. „Dadurch erfuhr das Habsburgerreich seine größte Ausdehnung und es galt nunmehr die Ostgrenze, die quer durch Serbien verlief, ausreichend durch Militäreinheiten zu sichern“, beschreibt Reiter den Ort des Geschehens. Dabei übernahmen in dieser Region die sogenannten Heiducken als besoldete Infanteristen den Grenzschutz.

Im Herbst 1731 war diese Südostgrenze massiv gefährdet. Krankheitsendemien versetzten die Regierenden in Unruhe: „In den Dörfern der Rätzen, Heiducken und Walachen kam es zu Krankheitsfällen, die den dort stationierten ‚Contagions-Medicus‘ – heute würde man sagen Seuchenärzten – völlig unbekannt waren und die große Angst in der Bevölkerung nach sich zogen“, berichtet Reiter. Wobei die Einheimischen die gehäuften Todesfälle als Folge einer „Vervampyrung“, mit „Y“ geschrieben – hervorgerufen durch Untote und Blutsauger ansahen. Diese „Vampyrkrankheit“ war der regionalen Bevölkerung seit Langem bekannt und als Abhilfe dagegen wurden die Enterdigung der Verstorbenen, deren Exekution durch Pfählen und Köpfen und das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen gefordert.

„Das war für die Militäreinheiten an der Ostgrenze so eigenartig, dass sie sich nicht getraut haben, diese Leichenexekutionen durchzuführen, ohne in Wien nachzufragen“, so Reiter. Die regionalen Heiducken forderten eine sofortige Handlungslegitimation, um die im Rahmen der Endemie Verstorbenen zu exekutieren und drohten im Falle einer Nichtbewilligung mit dem Abwandern und der Preisgabe der Grenze gegenüber dem Osmanenreich. „Dies führte zu einer behördlichen Untersuchung durch regional stationierte Militärärzte, die daraufhin Obduktionen der Vervampyrten und einer Kontrollgruppe vornahmen, bis zum heutigen Tage sehr aussagekräftige Befunde erhoben und letztlich die Vervampyrten zur Exekution freigaben“, rekonstruiert Reiter die Ereignisse.

Die Symptome der Vampyrkrankheit

Epidemiologisch gab es in der Region in der Ortschaft Kisolova in acht Tagen neun Tote, in Medvegya in sechs Wochen 13 Tote, in Merul in fünf Monaten 80 Tote und in Nagybanya in zwei Monaten fünf Tote. „Die Symptome der Vampyrkrankheit sind relativ genau aufgezeichnet“, zitiert der Gerichtsmediziner aus den aufgezeichneten Krankengeschichten: „Die Krankheit zeigte sich mit Fieber, Schauer, heftiger Atemnot, gleichzeitig wird auch von Brechreiz, Schmerzen im Bauch und im Bereich der Schlüsselbeine berichtet, die Sterbenden hatten blaurote Flecken im Bereich der Schlüsselbeinregionen und am Hals. Es ergaben sich Symptome der Austrocknung, des unstillbaren Durstes, der Puls wurde als unregelmäßig und schwach beschrieben. Es kam zu Sinnestrübungen, nächtlichen Delirien, die Betroffenen hatten Angstphänomene, Alpträume, in denen sie in der Nacht von wiederkehrenden Toten delirierten. Der Verlauf dieser Krankheit war extrem foudroyant, innerhalb von ein bis vier Tagen trat der Tod ein.“

Varney the Vampire, Wikimedia Commons
Quelle: Wikimedia Commons

Die Erkrankung wurde nur in der Herbst- oder Wintersaison beobachtet. Sie befiel sowohl Mensch als auch Tier und sie galt als unheilbar, wobei die Landbevölkerung Schutzmaßnahmen kannte, zitiert Reiter aus den Berichten: „Die Einheimischen wussten, wie man sich vor dieser Krankheit schützen könne, man müsste sich einfach mit dem Blut eines Vervampyrten ‚einschmürben‘, also einschmieren.“ In der Ortschaft Medvegya, das von Heiducken bewohnt wurde, die dort eine militärische Söldnertruppe stellten, beginnt auch die forensische und historische Aufarbeitung von Prof. Reiter: „Weil die dort beobachteten Befunde am saubersten und am genauesten dokumentiert sind.“

Untersuchungen aus Wien

In der Zeit von Oktober bis Dezember 1731 wurde in Medvegya der Wiener „Contagions-Medicus“ Dr. Glaser beauftragt, diese Seuche zu untersuchen und einen Bericht zu verfassen. Dieser Bericht wurde dann an die Jagodiner Kommandatur übermittelt und liegt heute im Hofkammerarchiv in Wien im Original auf. Dr. Glaser berichtete folgendes: Er riet dazu, eine „chyrurgische Visitation“ durchzuführen und zwar die Ausgrabung und Obduktion von 16 Leichen, um die Krankheit näher abzuklären. Daraufhin wurde der Obduktionsbericht (ein „Visum Repertum“) von einem Militärarzt namens Dr. Flückinger verfasst und an die Belgrader Oberkommandatur übermittelt. „Auch dieser Bericht liegt im Original im Wiener Hofkammerarchiv auf und kann, sofern man die Schrift lesen kann, studiert und die Obduktionsergebnisse eingesehen werden“, erklärt Reiter.

Die aus Glasers Bericht resultierende Maßnahme war die Exhumierung von Leichen, „wobei man wissenschaftlich vorgegangen ist, indem man einerseits jene untersucht hat, die in Verdacht standen „vervampyrt“ zu sein, andererseits hat man als Kontrollgruppe auch Verstorbene herangezogen, die in der gleichen Zeit an anderen Ursachen verstorben waren“, beschreibt Reiter. Es fand ein morphologischer Vergleich dieser Kollektive statt, beschrieben in den Berichten: „Ich habe diese Obduktionsergebnisse studiert, die Chronologie der Ereignisse aufgelistet und mir ein Bild gemacht: Was ist damals passiert, wer ist damals wann und woran gestorben und wie schaut es mit der Kontrollgruppe aus?“

Die Vampyre von Medvegya

Die Chronologie in Medvegya beginnt mit einer weiblichen Person im Alter von 50 bis 60 Jahren namens „Miliza“, die angeblich von zwei vervampyrten Schafkadavern gegessen habe. „Dadurch sei die Krankheit auf sie übergesprungen und sie innerhalb kürzester Zeit verstorben. In weiterer Folge erkrankt eine Gesellschaft von mehreren Personen, die an einem Festmahl bei einem Geburtstagsfest teilnehmen, innerhalb weniger Tage sterben auch sie“, so Reiter, der die blutigen Ereignisse weiter auflistet: „Es wird auch vom Todesfall einer Frau berichtet, die versuchte, sich vor der Krankheit zu schützen, indem sie sich mit dem Blut eines Vervampyrten eingeschmiert hat.“ Aufgelistet werden auch Frauen, die nach der Geburt verstorben sind, „wobei die Kontrollgruppe nur sechs Fälle umfasst, während die anderen 13 Personen die Gruppe der Vervampyrten darstellen, von der Statistik her also keine glückliche Verteilung“, ordnet Reiter die wissenschaftliche Evidenz ein.

Die Merkmale der Vervampyrung werden von den Militärärzten wie folgt beschrieben, so Reiter: „Die Vervampyrten wären, obwohl sie drei bis acht Wochen bestattet waren, unverweslich und geruchlos, während die Kontrollgruppe sehr wohl Verwesungserscheinungen aufgewiesen habe. Bei den Vervampyrten wurde Blutaustritt aus den Gesichtsöffnungen beschrieben, vor dem Öffnen der Särge konnte man durch den Sargdeckel hindurch ein Schmatzen der Leichen wahrnehmen und sie hätten eine üppige Leibesfülle in den Gräbern entwickelt, was man auf das Blut der Menschen, die sie befallen hätten, zurückführte.“ Bei den Vampyren wird außerdem eine Abschichtung der Haut beschrieben, darunter soll neue, rosige Haut entstanden sein, auch Haare und Nägel seien gewachsen, „bei männlichen Leichen wird von den wilden Zeichen der Erektion berichtet“, zitiert der Gerichtsmediziner die historischen Schriftstücke. Auch das unschädlich Machen der exhumierten Vervampyrten ist genau beschrieben: „Denn das hat sich bis zum heutigen Tag durchgezogen, einem Vampir muss ein Pfahl durch das Herz geschlagen, der Kopf abgeschlagen und er muss auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.“

Als weitere Maßnahme erfolgte das Ansuchen der Militärärzte weitere Enterdigungen und Exekutionen durchführen zu dürfen, weil man der Ansicht war, dass diese Vampyr-Epidemie noch nicht zum Stillstand gekommen sei und es hier noch eine große Dunkelziffer geben dürfte, führt Reiter aus: „Dieses Ansuchen nach Wien war aber auch mit einem Ersuchen um entsprechend finanzielle Abgeltung und zusätzlichen Remunerationen für die Untersuchungen und anschließenden Exekutionen verbunden. Wie zu erwarten wurde dieses Ansuchen abgelehnt.“

Blutige Berichte und ein möglicher Betrug

Das Phänomen der Vampyrkrankheit analysiert der Gerichtsmediziner aus heutiger medizinischer Sicht: „Wenn es zum Blutaustritt aus den Gesichtsöffnungen der Verstorbenen und einem Schmatzen der Leichen kommt, dann ist das ein Phänomen, dass wir als Gerichtsmediziner kennen, es ist nämlich ein fäulnisbedingter Austritt von blutig-wässerigen Sekreten aus den Gesichtsöffnungen, die mit Gasbläschen einhergehen, die dann beim Platzen dieses schmatzende Geräusch nach sich ziehen.“ Auch die Zunahme der Leibesfülle ist laut Reiter auf den Effekt der Fäulnisgasblähung zurückzuführen. „Die Abschichtung der Haut erfolgt aufgrund des Phänomens des Abgehens der Epidermis in Folge der Fäulnisveränderungen. Das Wachstum von Haaren und Nägeln ist nur eine scheinbare Beobachtung, denn sie wachsen nicht, aber weil die Haut über den Haaren und Nägeln eintrocknet, wirkt es so. Und die wilden Zeichen der Erektion sind ebenfalls eine Folge der Fäulnisgasbildung“, schlussfolgert der Gerichtsmediziner.

„Sicher objektiv unwahr ist die von den Militärärzten genannte Geruchlosigkeit der Obduzierten. Das kann ich Ihnen nach über 40 Jahren Obduktionstätigkeit bestätigen, dass hier sicher keine Geruchlosigkeit bestanden hat“, berichtet Reiter aus der Praxis. „Auch die Unverweslichkeit nach drei bis acht Wochen ist bei einer Erdbestattung nicht haltbar. Daraus müssen wir ableiten, dass doch tendenziös Unwahrheiten in diesen Bericht eingeflossen sind und der Vorsatz eines Betruges bestanden hat“, beurteilt der Gerichtssachverständige die Motive der Militärärzte und kommt zu einem Fazit: „Nämlich, dass die Militärärzte versucht haben, sich durch das Erwerben von Remunerationen im Rahmen von Exhumierungen zu bereichern und dafür diese Studie getürkt wurde.“

Tote Tiere statt Untote sind der Auslöser

Doch der erfahrene Obduzent kann aus den Berichten trotzdem haltbare Befunde ableiten: „Und zwar fand man damals blutige Ergüsse in den Brusthöhlen, es fand sich Blut in der Magenlichtung, es wird von einem hämorrhagischem Lungenödem berichtet und bei kurz vor ihrem Tod Gebärenden wurden blutige Entzündungen der Gebärmutterhöhle entdeckt“, analysiert Reiter und gibt die Antwort auf die Frage, was der „Vampyrerkrankung“ tatsächlich zu Grunde lag: „Wir können das heute aufgrund der doch genauen Beschreibungen rekonstruieren: Es handelte sich hier um eine Milzbrand-Endemie.“

Der Milzbrand ist eine Zoonose, die vor allem bei Rindern und Schafen auftritt. Der Erreger ist der Bacillus anthracis, der von Robert Koch 1876 entdeckt wurde, ein grampositives Stäbchen mit Sporenbildung. „Wobei diese hoch pathogen sind, auch hier haben wir in Übereinstimmung zu den Berichten eine Inkubationszeit von ein bis fünf Tagen, also einen sehr foudroyanten Verlauf“, führt Reiter aus. Der Milzbrand wird von Tieren durch deren Ausscheidungen auf den Menschen übertragen, aber auch das rohe Fleisch toter Tiere ist Überträger. Der Keim gedeiht gerne in sumpfigen Böden, die, wenn sie austrocknen, zur Ausbildung der Sporen anregt. Aus Sporen auskeimende Bakterien zeigen eine höhere Pathogenität. „Das sumpfige Weideland in der Region von Medvegya war somit prädestiniert für die Ausbreitung des Milzbrandes, wie auch die meteorologischen Gegebenheiten in dieser Zeit ideale Bedingungen schafften. Es lässt sich rekonstruieren, dass gerade im Sommer 1731 eine Dürreperiode wechselnd mit Hochwasser vorherrschte“, fasst Reiter weitere Indizien zusammen.

Der Milzbrand – eine tödliche Seuche

Es gibt drei verschiedene Formen des Milzbrandes: Den Hautmilzbrand, die mildeste und häufigste Form, der vor allem durch direkten Hautkontakt in den Körper gelangt, dadurch entsteht eine schwarze Pustel, die eine Letalität von fünf bis 35 Prozent mit sich bringt. Den Lungenmilzbrand, der entsteht, wenn Sporen über kontaminierten Staub in die Lunge gelangen, wodurch eine hämorrhagische Pneumonie auftritt. Das ausgehustete Sekret der Betroffenen ist dabei hochinfektiös. Und den Darmmilzbrand, der durch den Verzehr von infiziertem ungegarten Fleisch entsteht und der hämorrhagische Entzündungen des Darmes mit sich bringt, wodurch auch diese Ausscheidungen hochinfektiös sind. Die Letalität von Lungen- und Darmmilzbrand liegt bei 90 Prozent. „Wobei man, wenn man einen Hautmilzbrand überlebt hat, tatsächlich sozusagen geimpft ist“, beschreibt Reiter ein weiteres Indiz: „Dazu passt auch die Beobachtung der einheimischen Bevölkerung, dass das ‚Einschmürben‘ mit dem Blut eines Vampyrs einen gewissen Schutz darstellt.“ 

Aufgrund der Symptome geht für Reiter aus den vorliegenden Dokumenten klar hervor, dass es sich um eine hochfieberhafte Erkrankung handelte: „Die massiven Fieberzustände führten zu dem beschriebenen unregelmäßigen, schwachen Puls, sowie zu Sinnestrübungen, Delirien und Alpträumen.“ Während andere Symptome auf die verschiedenen Formen des Milzbrandes hinweisen: „Brechreiz, Schmerzen im Bauch, das Gefühl der Austrocknung und des unstillbaren Durstes sind eher Symptome eines Darmmilzbrandes. Während die beschriebene Atemnot mit Schmerzen in den Schlüsselbeinregionen, verbunden mit Lymphknotenschwellungen, eher auf einen Lungenmilzbrand hindeuten“, so die Analyse des Gerichtsmediziners, und weiter: „Die Lymphknotenschwellungen, die auch blaurote Flecken über den Schlüsselbeinen nach sich zogen, können als Saugmale gewertet werden und machen die Behauptungen, die Erkrankten würden von Vampyren heimgesucht, die ihnen am Hals die Lebenskraft aussaugen, erklärbar. Auch der rasch eintretende Tod nach nur ein bis vier Tagen lässt sich mit dem Milzbrand gut zur Deckung bringen.“

„Wir können also sagen, dass in Medvegya und in den angrenzenden Ortschaften im Spätherbst 1731 tatsächlich eine Milzbrandendemie bestanden hat, ausgelöst durch eine Dürre im Sommer 1731“, fasst Reiter die gesammelten Fakten zusammen: „Die Infektion erfolgte über Schlachtvieh, betrachtet man den ersten Fall, wo Miliza zwei Schafe als Lebensmittel aufbereitet hat und die Todesfälle nach der Geburtstagsfeier. Die Militärärzte verfassten objektiv unrichtige Berichte über die Leichenveränderungen, zu dem Zweck, sich ein Taschengeld an der Ostgrenze zu beschaffen.“

Glasers „Vampyre“: Wiedergeburt als „Graf Dracula“

Doch diese Berichte hatten noch weitreichendere Folgen, weiß Reiter: „Dr. Glaser hatte seinen Bericht nicht nur an seine Dienststelle abgeliefert, sondern auch eine Abschrift an seinen Vater geschickt.“ Dieser war aber nicht nur Arzt in Wien, sondern auch Korrespondent des „Commercium Litterarium“, einer Zeitschrift, die in Nürnberg erschien, und in dieser wurde in einem Brief vom 13.2.1732 der Bericht seines Sohnes wiedergegeben. Die Reaktion waren gewaltig: Es folgten eine Vielzahl von Publikationen in diversen Boulevardblättern, aber auch medizinischen Fachjournalen, die sich mit der Frage des Vorkommens und dem Phänomen der Vampyre beschäftigten.

All das gelangte nach Wien, an den Hof Maria Theresias, wo Van Swieten tätig war. Auch van Swieten verfasste eine eigene Schrift über den Vampyrismus und kam zu dem Ergebnis der Vampyraberglaube „existiere nur dort, wo Unwissen und Aberglaube in den Köpfen sind“, was dazu geführt hat, „dass Maria Theresia 1755 einen Erlass herausgegeben hat, in dem die Exekution und die Ausgrabung von vervampyrten Leichen untersagt wurde. Und damit kam an der Ostgrenze die Vampyrendemie zum Stillstand“, berichtet Prof. Reiter vom Ende der Blutsauger-Seuche im Habsburgerreich.

Trotzdem zog das Ganze weitreichende kulturhistorische Folgen nach sich, die bis heute andauern. Der Schriftsteller Bram Stoker griff die Geschichte 1897 auf, nachdem ihm die Dokumente im Hofkammerarchiv in Wien bekannt wurden und er sie für interessant erachtete. In ersten Manuskriptteilen wurde sein Graf noch als „Count Wampyr“ bezeichnet.

Bram Stokers Notiz in der er ersprünglich von "Count Wampyr" schreibt, dies aber nachträglich in "Count Dracula" ändert. Quelle: Privatarchiv, Prof. Dr. Christian Reiter
Bram Stokers Notiz in der er ersprünglich von "Count Wampyr" schreibt, dies aber nachträglich in "Count Dracula" ändert.
Quelle: Privatarchiv, Prof. Christian Reiter

 

„Vermischt mit der historischen Person des Vlad Draculea, der dadurch bekannt war, dass er seine Widersacher gepfählt hat, was wiederum mit den beschriebenen Pfählungen bei den Exekutionen zusammenpasste, ergibt das den wohl berühmtesten Vampir der Literaturgeschichte, Graf Dracula“, erzählt Reiter. Aus der Dracula-Geschichte entwickelte sich eine ganze Industrie, die sich mit Untoten und Vampiren beschäftigt, bis zum heutigen Tag. So auch das Fazit des Gerichtsmediziners: „Letztlich spüren wir bis heute die Folgen dieser Vampyrendemie, weil, wie wir ja auch aus Glasers Berichten wissen, die Vampire nie wirklich sterben.“

Prof. Dr. Christian Reiter (*1955) war in seiner mehr als 40 Jahre dauernden Tätigkeit als Gerichtsmediziner zuletzt stellvertretender Leiter des Zentrums für Gerichtsmedizin der MUW. Bis heute ist der seit 1985 allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Sachverständige als solcher gutachterlich tätig und hält auch Vorträge zu historischen Kriminalfällen und Krankheitsgeschichten.

Die „Wiener Medizinischen Tage“ sind eine Veranstaltungsreihe der Ärztekammer für Wien, die 2021 von 26. bis 27. November stattgefunden haben. Prof. Dr. Christian Reiter hielt im Rahmen der „Wiener Medizinischen Tage“ einen Vortrag zum Thema „Eine Endemie als Ursprung des Vampyraberglaubens“.

 

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