Gioacchino Rossini (17921868)

Am 13. November jährt sich Gioacchino Rossinis Todestag zum 150. Mal, da kann man schon mal eine Träne vergießen! Und wir bei Henle liefern dafür sogar ein Stück vom Meister selbst, nämlich „Une larme“ (Eine Träne) für Kontrabass und Klavier. Rossini widmete diese schwermütige musikalische Miniatur 1858 einem verstorbenen Freund – warum sie unserem Herausgeber Tobias Glöckler aber trotzdem zur Freude gereicht, erklärte er mir im Gespräch.

Aber beginnen wir mit der wichtigsten Frage: Lieber Herr Glöckler, weshalb lieben die Kontrabassisten dieses Stück?

Tobias Glöckler

Rossini ist mit „Une larme“ zweifellos ein kleines Meisterwerk voll tief empfundener Musik gelungen, das ganz wunderbar mit der dunklen Klangfarbe des Kontrabasses harmoniert. Man spürt förmlich in jedem Takt die Leidenschaft des großen italienischen Opernkomponisten.

(Hier können Sie das Werk anhören.)

Es scheint, als hätte sich Rossini diese Elegie in einem persönlich schweren Moment förmlich von der Seele geschrieben. Das „Une larme“-Thema war ihm offenbar so wichtig, dass er es später in einem größeren Werk noch einmal verarbeitete.

Was macht Sie eigentlich so sicher, dass „Une larme“ wirklich für Kontrabass geschrieben wurde und nicht – wie immer wieder vermutet – für Violoncello?

In Rossinis Nachlass in Pesaro (Italien) findet sich ein Autograph des Werkes, das mit „Une Larme pour Basse“ überschrieben ist. Auf den ersten Blick passt hier wirklich Einiges nicht zusammen: In der Solostimme fallen mehrere Akkorde aufgrund des oktavierenden Kontrabassklangs unter den Klaviersatz, was unerwünschte Dreiklangsumkehrungen zur Folge hat. Hinzu kommt ein Schlussakkord, der bis zum tiefen C hinab reicht und damit die Tiefengrenze des Kontrabasses (E) unterschreitet, auf einem Violoncello jedoch spielbar wäre. Zweifel sind also durchaus angebracht, ob Rossini mit „Basse“ wirklich einen Kontrabass meinte.

Jetzt wird es aber spannend…

Bei genauer Betrachtung des Autographs fällt auf, dass Rossini die Gefahr der harmonisch problematischen Akkordumkehrungen elegant umgeht, und zwar mit einem schlichten Arpeggio-Zeichen! Ohne Arpeggiando würde beispielsweise im Takt 10 das tiefe A des Kontrabass-Akkords klanglich unter dem tiefsten Klavierton liegen. Bei einer gebrochenen Ausführung vor dem Schlag sind die betreffenden Akkorde aber automatisch harmonisch „korrekt“, da der Kontrabass den höchsten Ton seines Akkords zum Zeitpunkt des Erklingens der Klavieroktave bereits erreicht hat.

Henle-Ausgabe, T. 9-11

Und was ist mit dem Schlussakkord?

Glücklicherweise ist auch das tiefe C des Schlussakkords kein Argument gegen den Kontrabass, wie ein Blick auf die zu Rossinis Zeit gebräuchlichen Kontrabass-Stimmungen zeigt: Nachdem Vincenzo Panerai bereits um 1780 die Tiefengrenze italienischer Kontrabässe mit C angab, wurde 1818 von Griffith Jones für Italien sogar detailliert von einer Kontrabass-Stimmung in Quinten (!) berichtet, die mit C–G–d–a klanglich genau eine Oktave unter der Cello-Stimmung lag. Auch J. C. Nicolai (1816) und François-Auguste Gevaert (1863) berichten von genau dieser Stimmung.

Da auch Rossini in seinen Opernpartituren die tiefsten Kontrabasstöne verlangte, überrascht es kaum, dass er den Schlussakkord von „Une larme“ gleichfalls vom tiefen C emporsteigen ließ. Für unsere Edition musste der Schlussakkord minimal an den Tonumfang des modernen, quartgestimmten Kontrabasses angepasst werden, wobei der Duktus eines vierstimmigen pizzicato-Arpeggiando gewahrt blieb.

Während der Arbeit an der Edition gab es auch eine faustdicke Überraschung…

Das kann man wohl sagen! Alle gebräuchlichen Notenausgaben von „Une larme“ basieren auf dem erwähnten Autograph in Pesaro. In Vorbereitung unserer Edition verdichteten sich Hinweise auf ein mögliches weiteres Rossini-Autograph. Nach monatelanger Recherche stand fest: Es existiert eine weitere, spätere Quelle des Werks! Es handelt sich dabei um ein besonders schönes, auf reich verziertem Schmuckpapier notiertes Widmungsautograph, das in St. Petersburg aufbewahrt wird.

Und wie wirkte sich dieser Fund auf die Edition aus?

Die russische Quelle konnte nun erstmals in einer Urtext-Ausgabe berücksichtigt werden. Sie ergänzt das Autograph aus Pesaro an verschiedenen Stellen und erlaubt zudem eine Datierung: Rossini eignete die Reinschrift am 18. November 1858 dem Grafen Mateusz Wielhorski (1794–1866) zu, in Erinnerung an dessen verstorbenen Bruder Michał. Die Grafen Wielhorski waren zentrale Figuren des russischen Musiklebens – Michał als Komponist, Mateusz als Cellist. Ihr Salon in St. Petersburg war ein beliebter Treffpunkt der musikalischen Welt.

Moment mal: Der Widmungsträger war Cellist?

Ja. Ursprünglich war das St. Petersburger Autograph wohl nicht für den späteren Widmungsträger Mateusz Wielhorski bestimmt. Bei einer eigens für den passionierten Cellisten entstandenen Niederschrift hätte Rossini gewiss die Instrumentenangabe im Notentext mit „Violoncelle“ angegeben. Stattdessen notierte er „Basse“, ebenso wie schon beim bekannten Autograph in Pesaro.

Instrumentenangabe im Autograph aus St. Petersburg

Da Rossini sehr genau zwischen „Violoncelle“ und „Basse“ unterschied, wie aus den divisi-Passagen seiner Opernautographe hervorgeht, ist eine synonyme Benutzung beider Begriffe für das Violoncello ausgeschlossen. Zudem wäre – anders als bei dem auch als Dreisaiter verbreiteten Kontrabass (u. a. in Frankreich und England, Stichwort Dragonetti) – in einer originär für Violoncello bestimmten Abschrift der wiederholte Hinweis auf eine erforderliche 4. Saite (sulla 4a) gegenstandslos. Wohl aus Höflichkeit gegenüber dem Grafen ergänzte Rossini stattdessen auf der Rückseite einfach nur „pour Violoncelle“.

Instrumentenangabe im Autograph aus Pesaro

Mit dieser unkonventionellen Umwidmung wurde die ästhetische Wirkung des Schmuckautographen nicht durch eine auffällige Korrektur der Instrumentenangabe beeinträchtigt. Dank des St. Petersburger Autographs mit seinen differenzierten Instrumentenbezeichnungen und dem gelösten „Rätsel“ um Akkordumkehrungen und den vermeintlich zu tiefen Schlussakkord dürfte nun zweifelsfrei feststehen: „Une larme“ ist eine Originalkomposition für Kontrabass!

Welchen Stellenwert hat eine originale Rossini-Komposition innerhalb des Kontrabass-Repertoires?

Bekanntlich schrieben nur sehr wenige Komponisten ersten Ranges Werke für solistischen Kontrabass. Bisher fiel mir auf diese Frage eigentlich nur Mozart mit der Konzertarie „Per questa bella mano“ KV 612 und Saint-Saëns mit dem „Elefant“ aus dem „Karneval der Tiere“ ein; vielleicht noch Hindemith mit seiner Sonate für Kontrabass und Klavier. Dass wir nun auch Rossini dazu zählen können, ist ein unschätzbarer Gewinn und Grund genug für eine wahre Freuden-Träne.

Gibt es nicht doch irgendeinen Cello-Bezug?

Doch, und damit sind wir wieder bei dem eingangs erwähnten größeren Werk. Rossini überarbeitete das „Une larme“-Thema später noch einmal geringfügig und ergänzte es um ein Klaviervorspiel und mehrere virtuose Variationen, die auf dem Kontrabass unspielbar sind. Und was schrieb er vor die erste Notenzeile des Soloinstruments? „Violoncelle“! Wenn Rossini das Violoncello meinte, schrieb er es auch hin. Wir gönnen es den Cellisten.

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