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Requiem für die Oper

Gesammelte Geräusche und fragmentierte Klangräume: Die Komponisten Felix Leuschner und Minas Borboudakis zeigen mit ihren Werken, wie sich zeitgenössisches Musiktheater heute erleben lässt.

Oper oder Musiktheater? Die Begrifflichkeiten sind kompliziert. Oper, so lässt sich verkürzt darstellen, meint vor allem das Musiktheater des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Sie erzählt eine Geschichte mittels Instrumentalmusik und Gesang, in der Regel durch Sänger, die Charaktere in einer in sich geschlossenen Form repräsentieren. Im zeitgenössischen Musiktheater ist dagegen schlicht alles möglich. Es bezeichnet zunächst eine Gattung, das heißt, eine Sparte innerhalb des Theaters. Doch viele Komponisten grenzen sich gern gegen die Oper ab, aus kunstpolitischen oder ästhetischen Gründen, und sprechen bezüglich ihrer Stücke zu Recht von Musiktheater. Dieses ist hinsichtlich seiner Definition vielfältiger, die Gesamtkonzeption des Stückes sollte jedoch nach musikalischen Parametern wie Rhythmus und Klang gestaltet sein.

Zwei Komponisten haben nun zwei unterschiedliche Antworten auf die Frage gefunden, wie Musiktheater heute aussehen kann. Der eine, Felix Leuschner, schrieb zusammen mit seinem Team ein Werk, dessen offene, assoziative Form ganz klar die ästhetische Konzeption der Oper sprengt. Minas Borboudakis, der zweite Komponist, bewegt sich demgegenüber zu Teilen noch in der Operntradition, versteht sein Werk aber dennoch als Musiktheater. Wie ist es, sich vor diesem Hintergrund auf diese beiden Welten einzulassen?

Der Frankfurter Felix Leuschner, 1978 geboren, ist Komponist, Schlagzeuger und Electronic Performer. Seine Arbeit als Künstler ist vielfältig: Neben klassischen, akustischen Instrumenten spielt (Live-)Elektronik eine große Rolle als Identifikationsmerkmal seiner Musik. Zudem liegen Werke für Orchester, Kammermusik und Soloinstrumente sowie Installationen vor. Bezüglich seines Schaffens empfiehlt er, Kategorien wie „U“- und „E“-Musik abzulegen. Dementsprechend vielfältig sind die Einflüsse, die Leuschner selbst nennt: japanischer Noise-Punk, der Sound von Black- und Death-Metal der 1990er Jahre genauso wie die Komponisten Morton Feldman, Bernd Alois Zimmermann und Helmut Lachenmann.

Ausgangspunkt für Requiem für einen Lebenden ist ein Rechtsfall im Bundesstaat Texas. Dort sitzt der Amerikaner Gerald Marshall seit 15 Jahren im Todestrakt und wartet auf die Vollstreckung seines Urteils. Der Regisseur Manuel Schmitt reiste 2016 zum ersten Mal dorthin und verarbeitete die Begegnung in dem Dokumentarfilm Glass Between Us. 2017 flog er erneut in die USA, nun im Auftrag der Bayerischen Staatsoper, zusammen mit dem Komponisten Felix Leuschner und dem Librettisten Reto Finger. Das Team arbeitete von Beginn an zusammen. Diese enge Kooperation ist typisch im zeitgenössischen Musiktheater, wo eine gleichberechtigte Autorenschaft angestrebt wird, die die unterschiedlichen Medien gleichrangig behandelt und miteinander verwebt.

Requiem für einen Lebenden will nicht das Schicksal eines zum Tode Verurteilten nacherzählen. Sowohl die Tat als auch die Frage nach der Schuld bleiben im Hintergrund. Es ist der Versuch, sich der Todesstrafe über einen sehr expliziten Blickwinkel zu nähern: Im Todestrakt wird das unbestimmte Warten auf den Tod zu einem Schwebezustand ohne Zeit und Raum. Für immer von seinem früheren Leben getrennt, verbringt der Verurteilte Jahre in fast vollständiger Isolation – kein Körperkontakt, keine zwischenmenschliche Interaktion, anstelle eines Namens eine Nummer. Mit den Mitteln des Musiktheaters zoomt Leuschner in diese extreme und fremde Situation hinein.

Ein Vogelgezwitscher wird zum Ereignis, das Radio der Zellengenossen zur Folter, Alltagsgeräusche werden das Framing einer sich nie ändernden Stupidität. Echos aus der Vergangenheit sickern in die metallene Klanglichkeit der Zelle, wie die verzerrte Countrymelodie einer Geige.

Die Eindrücke der gemeinsamen Reise verarbeitet das Team in einem Stück, das, gegenüber der Dramaturgie einer Oper, keine stringente Erzählung verfolgt, sondern das Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet – anhand kleiner, assoziativer „Inselerzählungen“, wie es Felix Leuschner nennt. Als Genrebezeichnung verwendet er „musiktheatrales Requiem“, auch der Titel Requiem für einen Lebenden verweist bewusst auf die Totenmesse. Leuschner lässt in seiner Musik die ersten Requiemkompositionen aus dem 16. Jahrhundert durchschimmern, und auch der Text referiert auf die liturgische Form. Die Besetzung verdeutlicht zudem, dass es hier nicht um die psychologische Darstellung einzelner Charaktere geht. So werden beispielsweise die Texte des Mordopfers durch die Musiker und Performer des Ensemble Interface gesprochen. Alle weiteren Figuren sind jeweils mit zwei Sängerinnen besetzt, die stets simultan agieren – bis auf Gerald, der von einem Schauspieler verkörpert wird.

Für seine Komposition sammelt Leuschner Geräusche und Klänge, die er später verarbeitet: Diese „Field Recordings“ werden zum wichtigen Bestandteil der Musik. Geräusche sind das Stärkste, was von der Außenwelt in den Todestrakt dringt. Die Isolation Geralds wirkt wie ein Filter, der seine Wahrnehmung verschiebt – ein Phänomen, das Leuschner aufgreift. Die Gefängniswelt ist geprägt von einer Geräuschkulisse, und sie verstummt nie. „Noise pollution“ nennt Felix Leuschner dieses akustisch aggressive Umfeld, in dem die zum Tode Verurteilten jahrelang leben. Von der Aufführung wünscht er sich, dass sie dem Zuschauer eine Erfahrung vermittelt, weniger eine Geschichte erzählt. Der Komponist sucht eine musikalische Übersetzung der klaustrophobischen Isolation der Gefängnisinnenwelt einerseits und andererseits der endlosen Freiheit der Welt draußen: Ein Vogelgezwitscher wird zum Ereignis, das Radio der Zellengenossen zur Folter, Alltagsgeräusche werden das Framing einer sich nie ändernden Stupidität. Echos aus der Vergangenheit sickern in die metallene Klanglichkeit der Zelle, wie die verzerrte Countrymelodie einer Geige. All dies verschmilzt zu einem Sound, der bewusst auch überfordern will. Ruhig wird es bei Leuschner nur beim Gedanken an Geralds Tod.

Minas Borboudakis, geboren 1974 auf Kreta, lebt und arbeitet als freischaffender Komponist und Pianist in München. Für seine Kompositionen ist eine unmittelbare, fast körperliche Expressivität charakteristisch, die sich unter anderem in einer perkussiven Musiksprache äußert. Zentrale Elemente sind glissandierende Klänge, ein sich fortspinnendes Fließen der motivischen Ebene, Polyrhythmik, die Arbeit mit Kontrasten und das Experimentieren mit instrumentalen Spieltechniken. Hinzu kommt die Verwendung von elektronischen Klängen, auch zur Gestaltung des akustischen Instrumentariums, sowie das Erproben von Raumklang. Sein Œuvre umfasst Orchester- und Kammermusik sowie Ensemblewerke. Eine wichtige Rolle in seinem Schaffen nehmen Kompositionen für die Bühne ein.

In der Vertonung des Librettos von Vangelis Hatziyannidis unterstellt Borboudakis die Musik dem Wort. Er strebt eine Transparenz und Verständlichkeit im akustischen, inhaltlichen und expressiven Sinne an. Gesangliche Virtuosität, wie man sie aus der klassischen Oper kennt, soll diese Verständlichkeit nicht überdecken. Aus diesem Grund versteht er Z auch nicht als Oper. Dementsprechend sind die Partien für den Chor, die Sänger und die Sängerin überwiegend als Sprechgesang komponiert, dies allerdings sehr facettenreich und in enger Verzahnung mit den Instrumentalstimmen. Geschrieben ist das Stück für ein Kammerorchester mit Klavier, für Singstimmen und einen Sprecher. Wie auch in Requiem für einen Lebenden ist der Protagonist mit dem Sprecher besetzt, was die Bedeutung des gesprochenen Wortes innerhalb des Stückes hervorhebt.

Z handelt von dem politischen Mord an Grigoris Lambrakis, genannt Z, der 1963 Griechenland erschütterte und 1966 in dem gleichnamigen Roman von Vassilis Vassilikos verarbeitet wurde. In Auftrag gegeben von der Griechischen Nationaloper, wurde Z 2018 in Athen mit großem Erfolg uraufgeführt und erhält im Juli seine deutsche Erstaufführung, in einer für die Bayerische Staatsoper entstandenen deutschen Übersetzung von Michaela Prinzinger. Ganz im Sinne der Operntradition konzentriert sich das Stück nur zum Teil auf die Darstellung der historischen Ereignisse. Z fragt nach dem Wesen des Menschen: In Form einer Parabel werden die verschiedenen Akteure, vom Pazifisten Z über die ihn liebende Frau bis hin zum skrupellosen Polizeipräsidenten, zu Repräsentanten menschlicher Eigenschaften.

Das Stück ist in zwei Teilen geschrieben, die in einzelne Szenen gegliedert sind. Der erste Teil folgt noch einer an die Oper angelehnten Dramaturgie. Hier wird die Planung und Umsetzung des politischen Auftragsmordes chronologisch erzählt. Die Musik treibt die Handlung an, in einem großen Crescendobogen spitzt sich das Stück bis zum Mord zu. Die Charaktere sind zum Teil schablonenhaft und überspitzt angelegt, etwa in der grotesken Darstellung des Polizeipräsidenten und seiner Handlanger, die den brutalen Militärapparat ad absurdum führt. Im Zentrum des zweiten Teils steht der Mythos „Z“, und hier verlässt Borboudakis die stringente Handlung des ersten Teils. Die Ereignisse, etwa die folgenden Ermittlungen und Verhöre des Staatsanwaltes, werden nur noch schlaglichtartig eingeblendet. Es entfaltet sich die zweite Ebene des Stückes: Aus surrealen inneren Monologen des toten Z und einer als „Frau / Seele“ bezeichneten Figur sprechen seine Frau (und damit auch sein privates „Ich“) sowie seine Seele. Hier tritt Z gewissermaßen mit sich selbst in einen Dialog.

Das Stück reflektiert darüber hinaus den Mythos, zu dem der reale Z in Griechenland geworden ist – bis heute steht er für politischen Widerstand. Die kompositorische Umsetzung dieser zweiten Ebene zieht den Zuhörer auch räumlich in das Stück hinein: In den Monologen verlagert sich der akustische Fokus vom analogen, frontalen Instrumentarium hin zu einem dezentralen, elektronischen, reduziert-fragmentarischen Klangraum, der individuell auf die Reithalle angepasst wird.

Zwei Komponisten, zwei Antworten auf die Frage, wie heute Musiktheater realisiert wird: Zeitgenössisches Musiktheater muss nicht eindeutig definierbar sein. Seine Aufgabe ist es, uns unsere Gegenwart erfahrbar zu machen – aus neuen, aufregenden musikalischperformativen Perspektiven.

Text: Katharina Ortmann

Katharina Ortmann ist Musikdramaturgin und Kulturmanagerin, mit Schwerpunkt auf zeitgenössischem Repertoire und Projektentwicklung. Sie arbeitete mit verschiedenen deutschen Opernhäusern und Theatern, der Münchener Biennale und dem Goethe-Institut.