TK: Frau Prof. Dr. Jochimsen, im März dieses Jahres stellte der "Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen" sein Gutachten zur Digitalisierung vor. Es legte den Fokus auf die elektronische Patientenakte (ePA)  und die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs). Warum haben Sie diese zwei Bereiche ausgewählt?

Prof. Jochimsen: Bei dem umfangreichen Thema "Digitalisierung für Gesundheit“ mussten wir eine Auswahl aus zahlreichen interessanten Gebieten treffen. Bei ePA und DiGAs gingen wir davon aus, dass sie jetzt und in den kommenden Jahren die Chance haben, einen großen Beitrag zur Steigerung des Patientenwohls zu leisten. Ferner möchten wir etwas zu der laufenden Ausgestaltung von ePA und DiGAs beitragen.

Im Übrigen behandeln wir in unserem Gutachten durchaus noch andere Bereiche: den kompetenten Umgang mit digitalen Technologien - und zwar sowohl für Patientinnen und Patienten als auch für Leistungserbringer -, die Wichtigkeit der Nutzung von Forschungsdaten - künftig hoffentlich auch aus der ePA und aus DiGAs - sowie die juristischen, wettbewerblichen und ethischen Grundlagen der Digitalisierung. 

In der Corona-Krise wird deutlich, dass es einen Konflikt zwischen Datenschutz und Schutz von Leben und Gesundheit geben kann. Prof. Dr. Beate Jochimsen

TK: Bei der Vorstellung des Gutachtens sprachen Sie davon, dass Datenschutz kein Selbstzweck sein darf und neue Rahmenbedingungen nötig sind. Was meinen Sie damit?

Prof. Jochimsen: Da sind wir ja bei den ethischen Grundlagen. Ebenso wie Digitalisierung darf der Datenschutz im Gesundheitswesen kein Selbstzweck sein. Oberstes Ziel ist und bleibt das Patientenwohl. In der Corona-Krise wird deutlich, dass es einen Konflikt zwischen Datenschutz und Schutz von Leben und Gesundheit geben kann. Dabei ist die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen nicht nur ein Abwägungsverhältnis mit dem Leben und Gesundheit anderer, sondern auch mit Erziehung und Bildung oder Teilhabe am Kultur- und Arbeitsleben.

Statt Datenschutz muss deshalb Datensicherheit die neue Norm werden - in Verbindung mit spürbaren strafrechtlichen Sanktionen für alle, die die von der Solidargemeinschaft gezogenen juristischen Grenzen übertreten.

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TK: Als eine zentrale Rahmenbedingung für eine erfolgreiche Digitalisierung nannten Sie Programme  wie zum Beispiel den "Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst". Welche Zielstellungen sollten aus Ihrer Sicht diese Programme und andere Rahmenbedingungen enthalten?

Prof. Jochimsen: Primär gilt es, im öffentlichen und privaten Bereich die richtigen Anreize zur Digitalisierung zu setzen. Die Beteiligten müssen einen echten "Mehrwert" spüren, wenn sie digitalisieren. Darüber hinaus kann eine staatliche Förderung nötig sein, wenn die erforderlichen Ressourcen für die digitalen Neuerungen ansonsten gar nicht zur Verfügung stehen. Beim Öffentlichen Gesundheitsdienst gab es in der Corona-Krise beispielsweise das Problem, dass eine extra zum Kontaktpersonenmanagement entwickelte Software (SORMAS) in den Gesundheitsämtern nicht flächendeckend eingesetzt werden konnte, weil die personellen und technischen Ressourcen zur Einführung fehlten. 

TK: Die finanzielle Lage ist durch die Corona-Pandemie angespannt. Was sind Ihres Erachtens die vordringlichsten gesundheitspolitischen Aufgaben für die neue Bundesregierung?

Prof. Jochimsen: Neben der Digitalisierung des Gesundheitswesens sind das die Verzahnung von ambulantem und stationären Sektor, z.B. in der Notfallversorgung, die Stärkung der Attraktivität des Pflegeberufs und die Sicherung einer nachhaltigen Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherungen.

TK: Sie sind seit zwei Jahren Mitglied im Sachverständigenrat - wie blicken Sie auf die Zeit zurück?

Prof. Jochimsen: Die Arbeit mit den anderen Rätinnen und Räten und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Geschäftsstelle macht mir viel Spaß. Dadurch, dass bei uns verschiedene Disziplinen vertreten sind, habe ich neue Blickwinkel auf viele Sachverhalte und Herausforderungen kennen gelernt. In unserem aktuellen Gutachten "Digitalisierung für Gesundheit" behandeln wir ein Thema, dass zurzeit in der Gesetzgebung und der öffentlichen Diskussion eine große Rolle spielt. Ich würde mich freuen, wenn ich als Mitglied des SVR damit einen konstruktiven Beitrag zu gesellschaftlichen Debatte leisten könnte. 

Zur Person

Prof. Dr. Beate Jochimsen ist seit 2019 Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und seit 2010 Professorin für Allgemeine Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft, an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Zuvor studierte sie in Heidelberg, Köln und London, promovierte an der TU Berlin und habilitierte sich an der FU Berlin. In den Jahren 2000/2001 leitet sie das Büro des Berliner Finanzsenators. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gesundheitsökonomie, fiskalischer Föderalismus, Politische Ökonomie und Wohlfahrtsmessung.