Reinhild Wörheide hat das Konzept "Begleitung im Andersland" entwickelt. Ziel ist es, die Lebenswelt von Demenzkranken zu verstehen und Hilfe für die individuelle Situation zu geben. Die Kurse finden in verschiedenen Regionen Thüringens und inzwischen auch online statt. Für das Onlineangebot ist Wörheides Sohn Bernd Zerhusen zuständig.

Oft überwiegt die emotionale Belastung gegenüber der körperlichen Belastung.
Reinhild Wörheide

In der Kursreihe "Begleitung im Andersland" stehen der Austausch und die Kommunikation zwischen den Angehörigen von Demenzkranken im Vordergrund. Die Teilnehmenden erzählen aus der eigenen Lebenssituation,  Fragen können gestellt sowie individuelle Problemlösungen diskutiert werden. Neben der Vermittlung von Informationen geht es vor allem um die soziale Komponente. Es geht darum, Menschen in einer besonderen Belastungssituation zu stärken. Im Interview erzählen Wörheide und Zerhusen von ihren Erfahrungen.

TK: Frau Wörheide, Ihre Kursreihe richtet sich an Angehörige von Menschen mit Demenz. Wie unterscheidet sie sich von normalen Pflegekursen?

Reinhild Wörheide: In normalen Pflegekursen werden vorrangig Pflegetechniken vermittelt, in unserer Kursreihe spielen solche Techniken eine untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es darum zu erklären, wieso sich Demenzkranke plötzlich ganz anders verhalten als erwartet. Das persönliche Erleben steht im Vordergrund. Die Teilnehmenden bekommen die Möglichkeit, ihre Gefühle zu reflektieren, um festzustellen, ob und wie sie mit der Belastung umgehen können.

Für Zugehörige [Anm. d. Red.: "Zugehörige" umfasst neben den Verwandten, also Angehörigen, auch andere Menschen wie Freunde, Nachbarn oder Patenkinder, die sich mit einem Menschen verbunden fühlen] von Menschen mit Demenz ist der Austausch über die eigene Situation besonders wichtig, denn oft überwiegt die emotionale Belastung gegenüber der körperlichen Belastung. Sie haben einen enormen Leidensdruck. Eine Demenzerkrankung kann bis zu 20 Jahre dauern. Pflegerische Tätigkeiten werden oft erst in den letzten drei bis fünf Jahren in größerem Umfang notwendig. Zu diesem Zeitpunkt kann ein normaler Pflegekurs eine sinnvolle Ergänzung sein.

Austausch zwischen Ange­hö­rigen steht im Vorder­grund

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Beispielchat aus einem Onlinekurs.

TK: Viele Thüringer wünschen sich, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu leben. Was ist die bessere Betreuung für Demenzkranke: daheim oder im Heim?

Wörheide: Aus Sicht der Erkrankten ist es zunächst sinnvoll, die Lebensbedingungen im gewohnten Umfeld möglichst lange beizubehalten. Menschen mit Demenz fühlen sich sicher, wenn sie in einer vertrauten Umgebung sind.

Allerdings sollte bei der Frage nach der Unterbringung auch stärker darauf geachtet werden, was aus Sicht der Zugehörigen die bessere Lösung ist. Die Pflege eines Zugehörigen mit Alzheimer-Demenz ist extrem kräftezehrend, im späten Stadium teils kaum zumutbar. Die Unterbringung in einer Einrichtung nimmt Zugehörigen einen Teil ihrer Sorgen, denn sie wissen dann, dass die oder der Erkrankte gut versorgt wird.

Die Politik sollte die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf stärker in den Fokus rücken.
Reinhild Wörheide

TK: Können die Menschen Ihrer Erfahrung nach einschätzen, was auf sie zukommt, wenn sie sich entscheiden, einen Angehörigen mit Demenz zu pflegen?

Wörheide: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Bereitschaft zur Pflege sehr groß ist. Die Zugehörigen wissen allerdings nicht, worauf sie sich einlassen. Im Gegensatz zu anderen Krankheiten lassen sich der Verlauf und die Dauer einer Demenzerkrankung kaum voraussagen. Solange die Hauptpflegeperson nur in Teilzeit berufstätig ist, lässt sich die Pflege eines Zugehörigen oftmals noch organisieren. Muss die Berufstätigkeit allerdings aufgegeben werden, treibt das Pflegende häufig in die Altersarmut. Hier sollte die Politik die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf stärker in den Fokus rücken. Sie ist ebenso wichtig wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zur Kindererziehung.

Ein weiteres Problem sehe ich in der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung für pflegende Zugehörige von Menschen mit Demenz. Wer zum Beispiel einen Zugehörigen mit einer Krebserkrankung pflegt, bekommt viele positive Rückmeldungen. Im Gegensatz zu solchen somatischen, also körperlichen Erkrankungen, ist Demenz unsichtbar. Deshalb wissen die wenigsten, vor welchen Herausforderungen pflegende Zugehörige stehen, und folglich mangelt es hier an Empathie und Anerkennung.

Teil­neh­mende erzählen aus der eigenen Lebens­si­tua­tion

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TK: Wo in Thüringen bieten Sie Kurse an? 

Bernd Zerhusen: Wir haben freiberuflich tätige Kursleiterinnen in Erfurt,  Grammetal (Weimarer Land), Gotha, Jena, Kleinfurra (Nordhausen) und Weimar. Manchmal ergibt auch ein Blick über die Bundeslandesgrenze Sinn. Eine Kursleiterin aus Coburg betreut zum Beispiel auch immer wieder Menschen aus Südthüringen.  

Über unsere Internetseite machen wir Vorschläge für geeignete Kurse, wenn Interessierte Ihre Daten eingegeben haben. Und seit zwei Jahren gibt es auch die Möglichkeit, an einem Onlinekurs teilzunehmen.

TK: Kam das durch die Pandemie? 

Wörheide: Die ersten Gedanken schon, ja. Nachdem Präsenzkurse aufgrund von Corona nicht mehr möglich waren, sind wir auf provisorische Onlineangebote ausgewichen. Die wurden so gut angenommen, dass wir das professioneller angegangen sind. Das war auch der Zeitpunkt, als mein Sohn mit in die Geschäftsführung eingestiegen ist. Auf das breite Angebot, das wir jetzt machen können, sind wir sehr stolz.

Rein­hild Wörheide und Bernd Zerhusen

Reinhild Wörheide und Bernd Zerhusen, Geschäftsführung der Wörheide Konzepte GmbH Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Geschäftsführung von Wörheide 

TK: Was mögen die Menschen mehr, Präsenz- oder Onlinekurse?

Zerhusen: Das kommt auf die Bedürfnisse der Zugehörigen an. In den Onlinekursen werden die Informationen in der Regel viel dichter vermittelt. Sie sind zudem gut für Menschen, die zeitlich und räumlich gebundener sind. Oder für diejenigen, die sich leider immer noch für ihre Empfindungen oder Meinungen schämen, weil man anonymer und passiver sein kann - aber man muss nicht, das ist mir wichtig zu betonen.

In den Präsenzkursen entsteht deutlich Nähe unter den Teilnehmenden. Manchmal komme ich als Kursleiterin kaum zu Wort, weil sich so intensiver Austausch ergibt. Und man kann sich leichter in den Arm nehmen.

In Thüringen sind die Präsenztermine bis jetzt gefragter als das Onlineangebot. 

Meine Beobachtung ist nämlich auch, dass Zugehörige in Thüringen besonders häufig zu Hause gepflegt werden.
Reinhild Wörheide

TK: Welche Besonderheiten gibt es in Thüringen noch?

Wörheide: In Thüringen, wie in fast allen eher ländlich geprägten Bundesländern,  sind die Kurse in der Regel stärker besucht als in städtischen Gebieten. Hier gibt es so ein starkes Interesse, dass wir gefühlt immer zu wenige Dozenten haben. Es ist extrem wichtig, dass wir die ländlichen Strukturen mit einem guten Angebot abdecken können.

Meine Beobachtung ist nämlich auch, dass Zugehörige in Thüringen besonders häufig zu Hause gepflegt werden.

TK: Was wünschen Sie sich noch für die Zukunft, außer genug Kursleiterinnen und Kursleiter?

Zerhusen: Dass wir es schaffen, den Umgang mit und den Blick für Demenz noch mehr in die Gesellschaft zu tragen. Die Erkrankung betrifft nicht nur Hochbetagte. Ja, die Häufigkeit nimmt mit steigendem Alter zu. Aber auch zwischen 65 und 75 gibt es allein in Thüringen rund 7.800 statistisch erfasste Betroffene (Stand 31.12.2021). Und es gibt Menschen, die erkranken schon mit 50 oder jünger an Demenz. Dann sind die Kinder zum Teil noch Jugendliche. Wir müssen uns diesem gesellschaftlichen Thema stellen. 

Denn die gute Nachricht ist: Auch mit Demenz können die Betroffenen und Zugehörigen gut leben. Man muss es einfach nur wissen. Dafür hilft es eben sehr, den Blickwinkel zu verändern und aufmerksam zu sein. Dann ist man zum Beispiel nicht mehr sauer, weil der Partner Dinge verschusselt, sondern kann einer Erkrankung liebevoll und geduldig begegnen.

Deswegen freut es mich sehr zu sehen, dass auch Menschen, die nicht offiziell pflegende Zugehörige sind, zu den Kursen kommen. Auch Freunde oder "Mitbewohner" eines Seniorenheims interessieren sich zum Beispiel dafür, wie sie mit Demenzkranken umgehen sollten. Das ist ein wichtiger Schritt.

Zur Person

Reinhild Wörheide ist Diplom-Gerontologin und Geschäftsführerin von Wörheide. Ihre wissenschaftliche Kompetenz als Diplom-Gerontologin sowie die jahrelangen persönlichen Erfahrungen waren die Basis für das Kurskonzept "Begleitung im Andersland", eine Kursreihe für Angehörige von Menschen mit Demenz.

Bernd Zerhusen betreut als zweiter Geschäftsführer von Wörheide das Onlineangebot. Mit über 200 qualifizierten und erfahrenen Dozenten bundesweit führt das Unternehmen "Begleitung im Andersland" durch und konnte bis heute bundesweit 30.000 Angehörige erreichen und erfolgreich unterstützen.