Gewaltereignisse im weitesten Sinn gehören in der stationären Pflege zum Alltag, sind aber häufig ein Tabuthema. Sie können sowohl die Pflegebedürftigen als auch die Pflegenden betreffen. Ziel des PEKo-Projektes ist es, Gewaltereignisse in der Pflege und deren Ursachen in den Fokus zu rücken und in den Einrichtungen eine Kultur des Hinschauens und der Achtsamkeit zu schaffen. 

"Beim Thema ‚Gewalt in der Pflege‘ stellen wir uns hilfebedürftige ältere Menschen vor, die Misshandlungen des Pflegepersonals ausgesetzt sind, oder auch hochbetagte Menschen, die krankheitsbedingt ihr Verhalten nicht mehr kontrollieren können und gegenüber Pflegekräften oder Angehörigen körperlich übergriffig werden. Konflikte und Gewalt im weitesten Sinne sind jedoch weit komplexer und vielfältiger", sagt Professorin Henny Annette Grewe, die für PEKo projektverantwortliche Dozentin an der Hochschule Fulda.

Gewalt in der Pflege ist häufig ein Tabuthema, was eine problematische Konstellation für alle Beteiligten darstellt, denn solange ein Problem tabuisiert wird, wird darüber geschwiegen.
Professorin Henny Annette Grewe

Gewalt im Pflegealltag geschieht oft subtil und häufig nicht bewusst oder gar absichtsvoll. Gewaltereignisse, die bei den Betroffenen erhebliches Leid auslösen können, sind vielfältig. Schon eine unerwünschte Berührung oder eine Vernachlässigung beispielsweise der Körperpflege zählt dazu. Auch eine unpassende oder einschüchternde Anrede wie ungefragtes Duzen, jemanden zu beschimpfen oder zu beleidigen, vielleicht sogar mit einer sexuellen Äußerung oder Handlung zu konfrontieren, ist eine Form von Gewalt (siehe Grafik).

Gewalt in der Pflege

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Von körperlicher Gewalt bis hin zur Vernachlässigung: In der Pflege kann es unterschiedliche Formen der Gewalt geben.

Gewalt in der Pflege - ein Tabu 

"Gewalt in der Pflege ist häufig ein Tabuthema, was eine problematische Konstellation für alle Beteiligten darstellt, denn solange ein Problem tabuisiert wird, wird darüber geschwiegen. Das Gegenteil ist richtig und wichtig, nämlich die Gewalt in der Pflege zu thematisieren und in den Einrichtungen eine Kultur zu entwickeln, in der sich alle aktiv mit der alltäglichen Gewalt auseinandersetzen können. Durch eine offene Kommunikation können alle Mitarbeitenden lernen zu erkennen, wo Gewalt anfängt und wie sie mit schwierigen, herausfordernden Situationen im Alltag umgehen können", so Professorin Grewe. 

Hier setzt das von der TK seit 2018 geförderte Präventionsprojekt "PEKo" an. Ziel des Projekts ist es, Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen für Gewalt in der Pflege zu sensibilisieren und darin zu unterstützen, Gewaltereignisse sicher erkennen und möglichst vermeiden zu können. Zudem lernen sie, angemessen mit Gewaltsituationen umzugehen und Gewalterfahrungen - individuell und im Team - aufzuarbeiten. 

Projektentwicklung und -förderung

Die Abkürzung PEKo steht für "Partizipative Entwicklung von Konzepten zur Prävention von Gewalt in der stationären Pflege". Die Techniker hat das PEKo-Projekt in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Lübeck entwickelt und fördert dessen Umsetzung finanziell im Rahmen des Präventionsgesetzes und des Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetzes. 

Am ersten Durchlauf des PEKo-Projekts (PEKo 1.0) haben bundesweit 53 Pflegeeinrichtungen der stationären Altenpflege teilgenommen. Darunter sind neun aus Hessen: fünf Einrichtungen aus dem Frankfurter Raum und vier aus dem Raum Fulda. Alle wurden bei der Umsetzung des Projekts über ein Jahr hinweg von Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftlern der am Projekt beteiligten Studienzentren Köln, Lübeck, Fulda und Halle begleitet und unterstützt. 

Enttabuisierung im ersten Schritt

Die Sensibilisierung für Gewaltphänomene im Pflege-Setting ist aus Sicht der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen an der Hochschule Fulda, Stefanie Freytag und Carolin Dunkel, bundesweit in allen Einrichtungen in der Regel der wichtigste Schritt zu Projektbeginn. In der intensiven Begleitung der Einrichtungen haben sie festgestellt: Die hessischen Einrichtungen sind in diesem Punkt meist schon weiter: Das Hessische Betreuungs- und Pflegeaufsicht hat bereits 2012, als bundesweit erstes Bundesland, einen neuen Paragrafen in das Hessische Betreuungs- und Pflegegesetz aufgenommen (§ 8 HBPG). Demnach müssen betreuungs- und pflegebedürftige Personen vor jeder Form von Gewalt und Missbrauch geschützt werden. Als Anforderung an die Altenpflegeeinrichtungen umfasst diese Verpflichtung auch ein Konzept zur Gewaltprävention. Vor diesem Hintergrund beschäftigen sich viele hessische Pflegeeinrichtungen schon länger mit Gewaltprävention in der Pflege.

Prof. Henny Grewe

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Verantwortliche Dozentin für das PEKo-Projekt, Hochschule Fulda

Gewaltfreies Klima schaffen

Ein Anliegen von Professorin Grewe ist: "Die Einrichtungen, die am PEKo-Projekt teilnehmen, fallen nicht etwa durch besondere Gewaltphänomene auf. Die Motivation der Pflegeeinrichtungen ist eine andere. Im Wissen, dass Grenzüberschreitungen und Gewalt im weitesten Sinn in allen zwischenmenschlichen Beziehungen vorkommen - auch in der Pflege - ergreifen sie mit dem Projekt aber die Initiative, um ein gewaltfreies Klima in ihrem Haus zu schaffen."

Eine der Einrichtungen, die das Präventionsprojekt mit viel Elan und Souveränität umgesetzt hat, ist das Alten- und Pflegeheim Anlagenring in Frankfurt. "Es war von Beginn an unser Anspruch, dass alle Menschen in unserer Einrichtung gewaltfrei leben und arbeiten können. Mittlerweile ist PEKo für uns ein Herzensthema geworden, das in unserem Alltag fest verankert ist", sagt Ulli Maria Jefcoat, Leiterin des dortigen PEKo-Projekts.

Individuelles Vorgehen

Im Rahmen von PEKo konnte jede Einrichtung individuell entscheiden, welche Maßnahmen durchgeführt werden sollen. Hierfür wurde in jedem Haus ein interdisziplinäres PEKo-Team gegründet, in dem Mitarbeitende aus allen Arbeitsbereichen wie beispielsweise Verwaltung, Pflege oder Hauswirtschaft vertreten sind. Mit diesem Schritt begann die Projektarbeit auch in der Frankfurter Pflegeeinrichtung Anlagenring. Als erste Aufgabe nahm sich das PEKo-Team dort vor, das bereits bestehende Konzept zur Gewaltprävention zu überarbeiten.

"Durch diese gemeinsame Arbeit konnten wir uns zunächst in unserem kleinen Kreis nochmals intensiv darüber austauschen, was der Begriff "Gewalt" für uns bedeutet. Im nächsten Schritt haben wir uns vorgenommen, alle Mitarbeitenden im Haus einzubeziehen und für das Thema zu sensibilisieren, auch für weniger offensichtliche Gewaltformen wie beispielsweise Vernachlässigung oder strukturelle Gewalt, die sich häufig in alltäglichen Pflegeroutinen zeigt, die nicht an den Bedürfnissen der Pflegebewohner ausgerichtet sind", sagt Frau Jefcoat.

Wir sind jetzt im Regelbetrieb, in dem wir die neuen Strukturen unseres Gewaltpräventionskonzeptes bewahren. Dennoch bleibt PEKo ein Thema, das uns sicherlich noch viele Jahre begleiten wird.
Ulli Maria Jefcoat

Aus der Arbeit am Gewaltpräventionskonzept heraus entwickelte sich im Anlagenring schließlich die Idee eines Workshops für die Mitarbeitenden im Haus. "In den Workshops wollten wir allen Mitarbeitenden in unserem Haus mehr Handlungssicherheit im Umgang mit den unterschiedlichen Gewaltformen vermitteln, für eine gute Informationsweitergabe und Kommunikation sensibilisieren und eine kontinuierliche Kulturveränderung in unserer Einrichtung anstoßen", so Jefcoat. Zügig wurde der erste Workshop angeboten, der ein großer Erfolg war. Seitdem wird das Format im Anlagenring regelmäßig durchgeführt. 

Ein weiterer Erfolg des Projekts in der Frankfurter Einrichtung: Alle Kolleginnen und Kollegen aus dem PEKo-Team wurden im Laufe der Zeit zu Vertrauenspersonen, die von allen Mitarbeitenden im Haus auf selbst erfahrene, bei anderen beobachtete oder auch selbst ausgeübte Gewalt angesprochen werden können. Zudem verstärkt seit einiger Zeit ein Psychotherapeut das hauseigene PEKo-Team, der bei schwierigen Situationen als Fachmann hinzugezogen werden kann. 

Konzept nachhaltig verankern

Ein wesentliches Ziel von PEKo ist es, dass die Pflegeheime die gemeinsam erarbeiteten Gewaltpräventionskonzepte dauerhaft in ihren Alltag implementieren und die PEKo-Teams in den Einrichtungen nach Projektabschluss weiterhin bestehen bleiben. Dieses Ziel hat der Anlagenring erreicht. "Wir sind jetzt im Regelbetrieb, in dem wir das Gelernte täglich anwenden und die neuen Strukturen unseres Gewaltpräventionskonzeptes bewahren. Dennoch bleibt PEKo ein Thema, das uns sicherlich noch viele Jahre begleiten wird", so Ulli Jefcoat.

Fruchtbar für alle teilnehmenden Pflegeheime während des ersten Projektjahres waren auch einrichtungsübergreifende PEKo-Treffen, bei denen alle Einrichtungen vom Wissen und den Erfahrungen anderer Pflegeheime profitiert haben. Hierfür kamen die neun hessischen PEKo-Einrichtungen aus dem Raum Frankfurt und Fulda zum Austausch zusammen. Auch dieser einrichtungsübergreifende Austausch soll in regelmäßigen Abständen bestehen bleiben.

Weniger Gewaltereignisse

Um die Wirksamkeit der beschlossenen und durchgeführten Maßnahmen in allen Einrichtungen wissenschaftlich auswerten zu können, wurden im Laufe des Projektes insgesamt drei Befragungen in den teilnehmenden Pflegeheimen durchgeführt, in denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Auskunft über persönlich erfahrene, beobachtete oder selbst ausgeübte Gewalt gaben. Die Auswertung dieser Befragungen für den wissenschaftlichen Abschlussbericht, der jetzt veröffentlicht wurde, zeigt: Das Präventionsprojekt PEKo konnte das Verständnis von Gewalt und den Umgang mit Gewalt in der Pflege deutlich verändern. Professorin Grewe: "Wir hoffen, dass dadurch langfristig Gewaltereignisse in der stationären Altenpflege vermieden und Pflegende entlastet werden."

Beobachtete und selbstausgeübte Gewalt

Laut den Befragungsergebnissen berichten die Mitarbeitenden in den Einrichtungen am häufigsten von Gewalt, die sie bei den Kolleginnen und Kollegen beobachtet haben - und am seltensten von der selbst ausgeübten Gewalt. "Dies liegt vermutlich darin begründet, dass Gewaltereignisse in der Selbst- und Fremdeinschätzung verzerrt wahrgenommen werden. Dennoch weisen die Ergebnisse aus dem wissenschaftlichen Abschlussbericht sowohl bei der beobachteten als auch bei der selbst ausgeübten Gewalt in dieselbe Richtung und sprechen dafür, dass das PEKo-Projekt in den beteiligten Einrichtungen ein geändertes Verständnis von Gewalt und einen veränderten Umgang mit Gewalt angestoßen hat", so Grewe.

Mit zunehmender Sensibilisierung hat die beobachtete Gewalt im Laufe des Projekts abgenommen. Während bei der ersten Befragung 86 Prozent der Mitarbeitenden Gewalt bei anderen beobachtet haben, waren es bei der dritten Befragung noch 75 Prozent (siehe Grafik). Dieser Rückgang betrifft vor allem die beobachtete psychische Gewalt und die Vernachlässigung durch Mitarbeitende.

Gewalt in der Pflege ist allge­gen­wärtig

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Gewaltereignisse finden nicht nur körperlich, sondern in vielen Fällen auch psychisch satt.

Selbst erfahrene und selbst ausgeübte Gewalt

Auch der Anteil der Befragten, die Gewalt selbst erfahren haben, hat sich im Vorher-Nachher-Vergleich von knapp 89 Prozent auf 85,5 Prozent reduziert. Hier weisen die Befragungsergebnisse auf einen leichten Rückgang bei der physischen und psychischen Gewalt sowie einen etwas deutlicheren Rückgang bei der sexualisierten Gewalt hin.

Auch für die selbst ausgeübte Gewalt fanden sich für alle untersuchten Gewaltformen rückläufige Tendenzen, insbesondere für die Zahl der Gewaltereignisse insgesamt sowie für die Gewaltformen psychische Gewalt, Vernachlässigung und physische Gewalt. Der Anteil der Befragten, die angaben, mindestens eine Gewaltform ausgeübt zu haben, sank von 63 Prozent auf 58 Prozent.

Weiterführende Links:

Gesetzlicher Hintergrund 

Im Präventionsgesetz, das 2015 in Kraft getreten ist, haben die Pflegekassen erstmals einen Präventionsauftrag für ihre Versicherten in stationären und teilstationären Pflegeeinrichtungen erhalten. Im Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetz, das zum 1. Januar 2019 in Kraft getreten ist, wurden die Krankenkassen zudem verpflichtet, in betriebliche Gesundheitsförderungsprogramme zu investieren, die Pflegekräften in Pflegeheimen und Kliniken zugutekommen. PEKo richtet sich an beide Zielgruppen - Pflegende und Pflegebedürftige. In ihrer Rolle als Pflege- und Krankenkasse erfüllt die Techniker im PEKo-Projekt beide gesetzliche Aufträge.