Wenn Erwachsene auf die Gefahren des Internets hinweisen, wirkt das auf Jugendliche oft als Belehrung. Deshalb übernehmen bei Netzgänger 3.0 Schüler aus höheren Jahrgangsstufen, die so genannten "Peers", die Lehrerrolle. Das Projekt startete 2016 mit zwölf Schulen im Münchener Raum und wurde im Laufe der Zeit erweitert. In 2023 und 2024 nehmen jeweils 24 Schulen in Bayern teil.

Patrick Hey ist Abteilungsleiter für Prävention und ambulante Angebote bei Condrobs. Er begleitet als Leiter des Projektes Netzgänger 3.0 Jugendliche durch die Schulungen, in denen sie ihr Wissen im Umgang mit dem Internet verbessern, um dieses dann als Peers an jüngere Schülerinnen und Schüler weiterzugeben. Im Interview spricht er über die Herausforderungen der Digitalisierung in Familien und Schulen.  

TK: Herr Hey, ist die Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen ein Problem?

Patrick Hey: Das Thema wird unglaublich gehyped, das heißt, man hört nur Negatives. Natürlich haben wir Probleme wie Cybermobbing, aber das große Thema liegt dazwischen. Kinder wachsen heute im Vergleich zu ihren Eltern ganz anders auf, ihre Mediennutzung ist eine andere: Sie sind viel versierter, was den Umgang mit Smartphone und Tablet angeht.

Eltern haben beim Thema Digitalisierung oft Ängste.
Patrick Hey

Eltern haben aufgrund ihrer Unsicherheiten beim Thema Digitalisierung oft Ängste, was verständlich ist. Das Rad lässt sich aber nicht mehr aufhalten. Ganz im Gegenteil, es wird sich noch schneller drehen. Und deshalb müssen wir beide Seiten ins Boot holen, den Eltern ihre Ängste nehmen und die Kinder aufklären.

TK: Über was klären Sie auf?

Hey: In den Workshops geht es um vier Themenfelder: Soziale Netzwerke, Spielewelten, Cybermobbing und Smart im Netz. Es wird insgesamt ganz viel in Workshops gearbeitet, nur zehn Prozent des Unterrichts findet frontal statt.

Wenn die Neuntklässlerinnen und Neuntklässler die Fünftklässlerinnen und Fünftklässler zum Beispiel über soziale Netzwerke wie WhatsApp, Snapchat und Instagram aufklären, geht es um Regeln für den Klassen-Chat. Es geht darum, dass die Klasse selbst Regeln aufstellt, Grenzen setzt und Sanktionen bestimmt, wenn jemand diese Grenzen überschreitet.

TK: Wie sehen diese aus?

Hey: Wir sind immer wieder überrascht, wie streng die Kinder sind. Wenn jemand beispielsweise eine Regel bricht, wird er drei Tage vom Chat ausgeschlossen. Wir Erwachsenen würden ja erst einmal das Problem ansprechen und eine zweite Chance einräumen. Die Kids sind da strenger.

Patrick Hey

Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Abteilungsleiter für Prävention und ambulante Angebote bei Condrobs

TK: Apropos streng. Wie sollte mediale Erziehung daheim aussehen?

Hey: Eltern müssen sich für die Mediennutzung ihrer Kinder interessieren, sie begleiten und gemeinsam mit ihnen Regeln bestimmen. Vielleicht sogar einen Mediennutzungsvertrag aushandeln. Den gibt es übrigens als Vorlage bei klicksafe.

Eltern müssen sich für die Mediennutzung ihrer Kinder interessieren.
Patrick Hey

Leider hat sich bei vielen Kindern manifestiert, dass der Umgang mit dem Smartphone von ihren Eltern verteufelt wird und es bei diesem Thema immer Streit gibt. Dabei fänden es die meisten toll, wenn ihre Eltern fit in den Themen sind und sich dafür interessieren, welcher Youtube-Star und welche Apps gerade in sind. Und sie sollten Vorbilder sein.

TK: Das heißt, selbst nicht immer am Handy kleben?

Hey: Richtig. Wenn Eltern ihre Kinder beispielsweise vom Kindergarten abholen und selbst das Handy kaum aus der Hand legen können oder beim Frühstück Mails checken, dann ist das schlecht für die Bindung zu ihrem Nachwuchs.

Gleichzeitig machen sie sich später unglaubwürdig. Viele Kinder fragen sich: Warum ist es mir nicht erlaubt, ständig meine Nachrichten zu checken, wenn meine Eltern das doch auch immer tun?

TK: Die Eltern machen das aber wegen der Arbeit.

Hey: Und die Kinder recherchieren vielleicht gerade bei Youtube nach einem Erklär-Video zum letzten Mathethema. Das ist ja dann auch unkritisch, oder? Im Fernsehen läuft beispielsweise eine Sendung ohne Ton, auf dem Tablet spielen sie ein Spiel und im Handy laufen die aktuellsten Chat-Nachrichten aus der Klasse. Das ist für die Elterngeneration nicht verständlich. Aber so sieht die Nutzung heute oftmals aus.

TK: Führt dies nicht zu Problemen wie Konzentrationsschwierigkeiten?

Hey: Es gibt so viele Faktoren, die zu Problemen führen können, wie zum Beispiel fehlende Rückzugsräume für die Kinder. Und die Digitalisierung spielt hier natürlich auch eine Rolle. Die Kontakte sind heute viel schneller. Das hat im Vergleich zu früher vieles verändert. Aber damit werden wir leben müssen.

Medienkompetente Kinder brauchen medienkompetente Eltern.
Patrick Hey

Eltern haben einen Erziehungsauftrag und müssen Grenzen setzen. Aber dazu müssen sie wissen, was ihre Kinder auf dem Smartphone oder Tablet machen. Ein Viertklässler, der völlig unbeaufsichtigt einen eigenen YouTube-Channel betreibt, hat natürlich ein höheres Risiko, sich in seiner Mediennutzung zu verlieren. Und er wird wahrscheinlich auch Dinge posten, die persönlich und privat bleiben sollten. Aber woher soll er es auch besser wissen? Medienkompetente Kinder brauchen medienkompetente Eltern.

TK: Wie bringt man Eltern Medienkompetenz bei?

Hey: Während der Zeit der partiellen Schulschließungen aufgrund von Covid-19 haben wir Elternabende als Onlineseminare angeboten und damit beinahe mehr Eltern erreicht als in mancher Präsenz-Veranstaltung. Hier zeigt sich, wie groß der Bedarf aber auch das Interesse von Eltern an Informationen über Umgang mit den Herausforderungen der digitalen Welt ist. Und es ist immer noch vor allem Eigeninitiative gefragt. Eltern informieren sich auch über gesunde Ernährung und die schulischen Leistungen ihrer Kinder, Wissen über Medien gehört daher definitiv ebenfalls mit ins Erziehungsrepertoire.

TK: Im Vergleich zu der Elterngeneration sind Kinder heute sowieso viel freizügiger in den sozialen Medien unterwegs.

Hey: Das stimmt, aber sie wissen genau, dass Firmen mit ihren privaten Daten Geld verdienen und stören sich nicht daran, dass der spätere Arbeitgeber ihre privaten Fotos finden könnte. "Der soll mich dann so nehmen wie ich bin und das respektieren", höre ich oft als Antwort. Hier herrscht großes Selbstbewusstsein. Mit Hilfe unseres Projektes wollen wir dieses Selbstbewusstsein nicht zerstören, aber einen kritischen Blick schärfen.

Mit unserem Projekt wollen wir einen kritischen Blick schärfen.
Patrick Hey

TK: Träumen die meisten Kids nicht davon Youtube-Stars zu werden?

Hey: Das ist ja auch verständlich, wenn man sich überlegt, wie viel Geld diese jungen Menschen damit verdienen. Denken Sie nur einmal an die eSports - große Fußballvereine haben eigene Mannschaften, die mit Profis im Teenager-Alter Online-Games vor einem riesigen Publikum spielen. Das sind reiche Stars.

Ich sage den Eltern immer, wenn sie ihre Kinder komplett von den neuen Medien fernhalten möchten, kann dies sogar negative Auswirkungen auf das spätere Berufsleben haben. Heute kann man ohne Digitalisierung beispielsweise kein Handwerk mehr betreiben.  

TK: Können auch die Lehrerinnen und Lehrer mit dieser Digitalisierungswelle umgehen?

Hey: In den Kollegien merkt man einen großen Spannungsbogen im Umgang mit der Digitalisierung: auf der einen Seite kreative und medienkompetente Lehrkräfte, die sich gerne mit dem Thema digitale Bildung auseinander setzen, auf der anderen Seite eher konservative und ablehnende Lehrkräfte, die teilweise dadurch überfordert oder uninteressiert sind, was den Einsatz von Medien im Unterricht und im Homeschooling angeht. Hier ist vor allem die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften, sowie die feste Verankerung von Medienkompetenzförderung im Lehrplan notwendig.

TK: Wie sind aus Ihrer Sicht die Schulen mit der Notwendigkeit zur Digitalisierung beim Corona-bedingten Lockdown umgegangen? 

Hey: Da es keine einheitlichen Konzepte gibt, ist die Folge nun ein regelrechter Flickenteppich an unterschiedlichen Herangehensweisen. Manche Schulen sind schnell und kreativ auf digitale Bildung umgestiegen, andere Schulen haben ihren Lehrkräften alleine die Aufgabe übertragen Lösungen zu finden, was schon aus oben genannten Gründen schwierig sein kann. 

Problematisch ist hier vor allem, dass es immer wieder Schülerinnen und Schüler gibt, die alleine von der technischen Ausstattung her gesehen nicht am Online-Unterricht teilnehmen konnten und können. Hier tritt deutlich ans Licht was Bildungsungerechtigkeit bedeutet: Nur weil die Eltern keine finanziellen Mittel haben, können ihre Kinder nicht ihr Grundrecht auf Bildung ausüben. Dafür müssen wirklich schnell und unbürokratisch auf allen Ebenen Lösungen gefunden werden. Eine Unterstützung der Schulen und Lehrkräfte ist von besonderer Bedeutung, damit nicht jede Schule ein eigenes Konzept entwickeln muss.  

TK: Wie geht das Projekt Netzgänger 3.0 damit um?

Hey: Wir haben zusätzlich eine zweitägige Lehrerinnen und Lehrer-Fortbildung in das Konzept mitaufgenommen, damit die Peers später auch von den Lehrerinnen und Lehrern ausgebildet werden können. Vor allem aber sensibilisieren wir so die Lehrerschaft, weil das Thema von den geschulten Lehrerinnen und Lehrern ins Kollegium getragen wird. Nach dem Prinzip: Hast Du schon von einem Youtube-Star namens XY gehört? etc.

TK: Ihr Fazit aus sechs Jahren Netzgänger 3.0?

Hey: Unser Konzept ist sehr nachhaltig und orientiert sich an den Bedürfnissen unserer Zielgruppen. Viele Schulen haben das Projekt daher fest in ihren Lehrplan aufgenommen. Wir erhalten außerdem immer begeisterte Rückmeldungen - sowohl von den Schülerinnen und Schülern als auch von den Lehrerinnen, Lehrern und Eltern. 

TK: Wenn Lehrkräfte und Eltern trotz aller Unterstützung und Begleitung einen sehr exzessiven Medienkonsum bei ihren Kindern und Jugendlichen feststellen, was können sie unternehmen?

Hey: Nach derzeitigen Statistiken liegt der prozentuale Anteil von Kindern und Jugendlichen, die einen stark exzessiven Medienkonsum pflegen, im einstelligen Bereich. Die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien benötigen dringend Unterstützung. Bei exzessivem Medienkonsum können die Betroffenen ihren eigenen Medienkonsum nicht mehr selbstständig regulieren. Ihr Lebensinhalt dreht sich ausschließlich nur noch um Onlinespiele, Social Media etc.

Nach derzeitigen Statistiken liegt der prozentuale Anteil von Kindern und Jugendlichen, die einen stark exzessiven Medienkonsum pflegen, im einstelligen Bereich.
Patrick Hey

In diesen Fällen erhalten Familien Unterstützung durch das Jugendamt, das an entsprechende Hilfeangebote vermittelt. Diese sind bis jetzt aber noch nicht in ausreichendem Maß und vor allem nicht flächendeckend vorhanden. Die Wartezeiten steigen, und die Zahl an hilfesuchenden Eltern nimmt weiter zu. Hier besteht ein dringender Bedarf an weiteren Hilfsangeboten. Wir merken dies vermehrt in unseren Beratungen zu Suchtproblematiken gerade mit der Generation der "digital natives".

Über Condrobs

Condrobs ist einer der größten überkonfessionellen Träger für soziale Hilfsangebote in Bayern. Die Organisation begleitet Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Schwierigkeiten, minderjährige und erwachsene Geflüchtete, süchtige Frauen und Männer, Angehörige und ältere Konsumenten und Konsumentinnen.

Weit über Präventions- und Hilfsmaßnahmen für Suchtgefährdete und -kranke hinaus ist Condrobs auch in der Kinder- und Jugendhilfe, Hilfen für Geflüchtete, der Altenhilfe sowie im Ausbildungs- und Beschäftigungsbereich aktiv. Ein besonderes Anliegen des Vereins sind Präventions- und Hilfsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche sowie die Unterstützung von Betrieben bei der Gesundheitsförderung.

Weitere Informationen gibt es bei Condrobs.