Dr. Rachaniotis, dessen Praxisklinik in Augsburg ist, erläutert im Interview, warum so viele Menschen an Rückenbeschwerden leiden, was an seinem Behandlungsverfahren besonders ist und wie man langfristig Rückenschmerzen vermeiden kann.

TK: 80 Prozent der Bevölkerung leiden mindestens einmal im Leben an Rückenschmerzen. Warum sind Rückenprobleme so häufig?

Dr. Vassilios Rachaniotis: Nach der Erfindung der Dampfmaschine hat sich nicht nur unser Leben verändert, sondern auch unser Körper. Durch die Fortschritte der industriellen Revolution kam es im Laufe der Zeit zu einer abnehmenden körperlichen Belastung zum Beispiel am Arbeitsplatz, aber auch im sonstigen Leben. Außerdem nimmt die Lebenserwartung kontinuierlich zu. Gleichzeitig sank aber auch durch die neuen Lebensumstände die körperliche Belastbarkeit, so dass - und dies trotz der eigentlich vorteilhaften Entwicklung der Arbeitswelt - für unser Bewegungsapparat ein Ungleichgewicht entstand. Das muskuläre System verlernt vereinfacht gesagt seine Funktion. Das macht uns anfälliger für Schmerzreize.

Dr. Vassi­lios Racha­niotis

Dr. Vassilios Rachaniotis, Facharzt für Anästhesie, Spezielle Schmerztherapie und Intensivmedizin Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Facharzt für Anästhesie, Spezielle Schmerztherapie und Intensivmedizin

TK: Seit Beginn der Coronapandemie sind viele Beschäftigte im Homeoffice. Hat das "Sitzen am Küchentisch" auch Auswirkungen auf die Rückengesundheit?

Eine aufgeklärte Patientin bzw. ein aufgeklärter Patient kann besser entscheiden, was für sie oder ihn heilsam ist.
Dr. Vassilios Rachaniotis

Dr. Rachaniotis: Die Einschränkung des Mobilitätsumfangs wurde durch die Coronapandemie noch verstärkt. Das führt zu einer Störung des komplizierten biopsychosozialen Gleichgewichts des menschlichen Muskel-Sehnen-Systems im Rücken. Hinzu kamen die eingeschränkten Möglichkeiten zu sinnvoller körperlicher Aktivität, die unzureichende Ausstattung des Home-Office-Arbeitsplatzes und die mit der Pandemie verbundenen psychosozialen Belastungsfaktoren. Das grundsätzliche Problem solcher Entwicklungen ist, dass sich die Folgen solcher Veränderungen langsam schleichend entwickeln und lange unbemerkt bleiben.

Hinzu kommt nun auch noch, dass nicht mehr nur ältere Patientinnen und Patienten vermehrt Opfer dieser Situation werden, sondern zunehmend auch jüngere Menschen unter den Einschränkungen ihres Bewegungsapparates leiden. Aktuelle Zahlen des Robert Koch-Instituts belegen, dass es im Verlauf der vergangenen 15 Jahre insbesondere bei den jüngeren berufstätigen Menschen zu einer Zunahme hartnäckiger Rückenschmerzen gekommen ist, die auch noch mit einer hohen Chronifizierungsrate verbunden ist. 

Die Gefahren und Folgen einer Operation werden unterschätzt.
Dr. Vassilios Rachaniotis

TK: Rückenschmerzen können auch durch psychische Belastungen ausgelöst werden können. Wie beeinflussen Themen wie die Pandemie und Krieg, aber auch alltäglicher Stress und Probleme die Rückengesundheit der Patientinnen und Patienten?
 
Dr. Rachaniotis: Die Zeiten, in denen Körper und Seele getrennt voneinander betrachtet wurden, gehören längst der Vergangenheit an. Neuere Wissenschaftszweige, wie beispielsweise die Psycho-Neuro-Immunologie zeigen den engen Zusammenhang zwischen Körper, Psyche und Immunsystem und wie stark sich diese gegenseitig beeinflussen. Es wäre ein Fehler diese Erkenntnisse zu ignorieren und nicht in die Therapie und Diagnostik mit einzuflechten. Das "Bio-Psycho-Soziale Modell" hat sich sowohl in der Erkennung von Krankheiten wie auch als Therapieansatz besonders gut bewährt und spielt gerade bei Schmerzen des Haltungs- und Bewegungsapparates und deren Manifestation im Grenzbereich von Körper und Seele eine große Rolle.
 
TK: Bitte beschreiben Sie einen klassischen Patienten, eine klassische Patientin, der bzw. die zu Ihnen kommt, um sich eine zweite Meinung einzuholen? Welchen "Leidensweg" hat die Patientin bzw. der Patient ggf. schon hinter sich?
 
Dr. Rachaniotis: Nehmen wir einen Mann mittleren Alters, der zu mir kommt. Er wirkt meistens verunsichert, manchmal sogar ängstlich. Er ist fixiert auf die ihm mitgeteilten Befunde, häufig wird ein "Bandscheibenvorfall" oder eine Arthrose für seine Schmerzprobleme verantwortlich gemacht und er weiß nicht viel mit der Diagnose anzufangen. Er weiß lediglich, dass es sich um etwas Gefährliches handeln könnte und er operiert werden muss, sonst würden schwerwiegende Komplikationen drohen. Häufig bringt er seine Röntgenbilder bzw. MRT-CDs mit. Die erste Station seines Leidensweges ist in der Regel der Hausarzt, der oft mit einer medikamentösen Therapie beginnt, gefolgt vom Orthopäden, anschließend ist meistens der Radiologe seine dritte Anlaufstation. Und wenn sich dann in den dort durchgeführten bildgebenden Untersuchungen verdächtige Befunde zeigen, kommt rasch der Neurochirurg ins Spiel.

Die Zeiten, in denen Körper und Seele getrennt voneinander betrachtet wurden, gehören längst der Vergangenheit an.
Dr. Vassilios Rachaniotis

Viele Patientinnen und Patienten berichten, dass sie im Rahmen dieser Reise von einer Ansprechpartnerin oder einem Ansprechpartner zur nächsten bzw. zum nächsten selbst nie wirklich richtig untersucht worden sind und dass sich die Ärztin oder der Arzt mehr mit den radiologischen Abbildungen beschäftigt hat als mit ihnen als Betroffene selbst. Man kann natürlich nachvollziehen, dass schwerwiegende strukturelle Wirbelsäulenveränderungen ausgeschlossen werden müssen, diese liegen aber nur bei rund fünf Prozent aller Betroffenen vor. Vielmehr sollte man sich dem eigentlichen Problem - nämlich den Beschwerden der Patientin bzw. des Patienten - widmen.

TK: Welche Untersuchungen müssen bereits erfolgt sein, damit Sie eine Zweitmeinung abgeben können?

Dr. Rachaniotis: Erstmals gar keine! Entscheidend für die Diagnose ist ein "gutes Ohr". Man muss der Patientin oder dem Patienten die Zeit geben, sich mitzuteilen. Neben der ausführlichen Anamnese führe ich für den Befund eine gründliche körperliche Untersuchung durch. Der dadurch hergestellte Kontakt hat oft eine beruhigende Wirkung, vor allem wenn man gleichzeitig erklärt, worum es geht und die normalen Befunde der Untersuchung besonders hervorhebt. So kann man zeigen, dass die Erkrankung in den meisten Fällen nicht so bedrohlich ist wie die Patientin oder der Patient primär angenommen hat.

Dieser Teil der Patienten-Arzt-Konsultation ist von entscheidender Bedeutung für das Vertrauensverhältnis. Letzteres stellt die Grundlage jeder Therapie dar. In dieser Phase ist das "Ohr der Patientin oder des Patienten" besonders aufmerksam und saugt förmlich jede meiner Informationen auf. In dieser Phase ist man gut beraten seine Auskünfte so zu formulieren, dass keine Missverständnisse entstehen und man der Patientin und dem Patienten alles verständlich erklärt, ohne sie bzw. ihn zu beunruhigen. Die von der Patientin oder vom Patienten oft mitgebrachten radiologischen Befunde haben in der Ursachenfindung seiner Beschwerden eher einen ergänzenden Charakter. Sie stehen in unserem Schmerzzentrum nicht an erster Stelle der Diagnostik-Kette.

Bewegen ist besser als nicht bewegen und jeder Schritt zählt.
Dr. Vassilios Rachaniotis

TK: Mit welchen Maßnahmen können Sie dem Patienten oder der Patientin häufig weiterhelfen?

Dr. Rachaniotis: Um der Patientin oder dem Patienten nachhaltig zu helfen, kombinieren wir physiotherapeutische, verhaltenstherapeutische, medikamentöse und nicht medikamentöse Maßnahmen und nutzen ein Team aus eingespielten, spezialisierten Therapeutinnen und Therapeuten. Der Aufklärung messen wir dabei einen besonderen Stellenwert bei, weil eine aufgeklärte Patientin bzw. ein aufgeklärter Patient auch in Zukunft besser mitreden und entscheiden kann, was für sie oder ihn gut und heilsam ist. Diese erfolgt meistens anhand von Modellen und Zeichnungen und in einer Sprache, die die Patientin und der Patient versteht. Sie trägt neben der Information, dass ihre bzw. seine Erkrankung keine Seltenheit ist, der weiteren Beruhigung der Patientin oder des Patienten bei. Nimmt man beispielsweise eine Bandscheibenproblematik, dann sage ich, dass in den meisten Fällen eine Operation nicht notwendig ist. Das dämpft erst einmal die Angst.

TK: In kaum einem Industrieland wird der Rücken so häufig operiert wie in Deutschland. Woran liegt das?

Dr. Rachaniotis: Hier spielen verschiedene Parameter eine Rolle. Erst einmal werden die Gefahren und Folgen einer Operation unterschätzt. Dazu kommt, dass bildgebende Befunde bei der Entscheidung zu stark gewichtet oder falsch interpretiert werden können. Man braucht nur an die Wirkung eines im MRT abgebildeten Bandscheibenvorfalls denken: Würde man der Patientin oder dem Patienten gleichzeitig erklären, dass dieser Befund nicht bedrohlich ist solange keine entsprechenden Symptome wie zum Beispiel eine Lähmung im Bein vorhanden ist, wäre die oder der Betroffene erst einmal beruhigt. Entscheidend für die Frage, ob eine Wirbelsäulenoperation bei Rückenschmerzen sinnvoll ist, ist also die eindeutige Klärung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen den Beschwerden der Patientin oder des Patienten und ihren bzw. seinen Befunden in bildgebenden Untersuchungen.

Internationale Analysen konnten zeigen, dass je nach Alter bei bis zu 90 Prozent aller schmerzfreien Menschen Veränderungen an der Wirbelsäule nachgewiesen werden können, weil sie eben die natürliche Folge des Alterungsprozesses sind. Wenn dann diese Menschen aus anderen Gründen Rückenschmerzen entwickeln, dann besteht die Gefahr, dass der Grund für die Schmerzen fälschlicherweise aus der veränderten Wirbelsäulenstruktur abgeleitet wird. Die Betroffenen haben dann nach der Operation nicht nur weiterhin Schmerzen, sondern auch noch die zusätzlichen Belastungen durch das Operationsverfahren wie zum Beispiel die nach Versteifungsoperationen eingeschränkte Beweglichkeit, Gewebeschädigungen und Vernarbungsprozesse etc. - von den Operationsrisiken ganz abgesehen.

TK: Warum sollte die Operation am Rücken generell die letzte Wahl sein?

Dr. Rachaniotis: Eine nicht vermeidbare Operation ist ein Segen für die Patientin oder den Patienten. Eine vermeidbarer Eingriff könnte hingegen der Anfang einer Kettenreaktion sein, die zu einer Chronifizierung des Leidens mit allen seinen unangenehmen Folgen führt. Generell gilt, dass das konservative Therapieverfahren den operativen vorgeschaltet sein sollte. Eine Entscheidung ist nicht immer einfach zu fällen und die Kolleginnen und Kollegen, die die Zweitmeinung übernehmen, tragen eine besondere Verantwortung. Die meisten Operationen sind durch konservative Therapien vermeidbar.

TK: Bei welchen Patienten bzw. Patientinnen bzw. Diagnosen ist eine Operation wirklich notwendig?

Dr. Rachaniotis: Lähmungserscheinungen und intensivste Schmerzen, die über mehrere Wochen andauern und auch unter Ausreizung der schmerzlindernden Therapie nicht zu beeinflussen sind. Oder auch Rückenschmerzen, die mit einer Blasen- bzw. Mastdarmlähmung einhergehen. Natürlich spielt der Wunsch der Patientin oder des Patienten eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung für oder gegen eine Operation. Die Voraussetzung ist daher immer, dass vorher eine intensive Aufklärung stattgefunden hat.

TK: Die Zweitmeinung vor Rücken-OPs ist nun auch in der Regelversorgung vorgesehen - was ist an dem TK-Angebot so besonders?

Dr. Rachaniotis: Eindeutig die Interdisziplinarität, das heißt, das Zusammenwirken verschiedener Disziplinen, die aus einer Hand am besten im gleichen Zentrum koordiniert die Patientin bzw. den Patienten behandeln. Die Grundmannschaft besteht in unserem Zentrum aus Schmerztherapeutinnen und Schmerztherapeuten sowie aus speziell zur Schmerztherapie geschulten Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie eine bzw. einem in der Schmerzpsychotherapie ausgebildeten Ärztin bzw. Arzt. Bei Bedarf wirken auch Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen mit.

Innerhalb von zwei bis fünf Tagen erhält die Patientin oder der Patient bei uns einen Vorstellungstermin, bei dem eine intensive Untersuchung und Beratung durchgeführt wird. Nach diesem so genannten Screening-Termin wird zeitnah auf die Frage, ob eine Operation erforderlich ist oder nicht, Stellung genommen. Falls eine konservative Therapie die bessere Alternative für die Patientin oder den Patienten ist, kommt zum Beispiel eine individualisierte Physiotherapie oder eine ambulante multimodale Schmerztherapie in Frage.

TK: Wie kann man Rückenproblemen vorbeugen?

Dr. Rachaniotis: Die häufigste Ursache von Rückenschmerzen stellen mit großem Abstand die muskulären Dysbalancen der Rückenmuskulatur dar. Daraus ergibt sich, dass ausreichend Bewegung kombiniert mit moderatem Training den Rücken langfristig gesund hält. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Übungen regelmäßig durchgeführt werden und von den Betroffenen so in den Alltag integriert sind, dass sie zu einer Art Routine werden. Das heißt: Das Auto und den Aufzug mal stehen lassen, einen längeren Spaziergang ohne größere Pausen machen oder mit dem Fahrrad unterwegs sein.

All das kann man leicht in den Alltag einbauen. Sportlichere Naturen haben sicher mehr Möglichkeiten ihr Bewegungsrepertoire zu erweitern, aber im Prinzip bleibt die Formel einfach: Bewegen ist besser als nicht bewegen und jeder Schritt zählt. Wer seine Muskulatur nicht regelmäßig trainiert oder aufhört, sich regelmäßig zu bewegen, läuft Gefahr, irgendwann körperliche Probleme zu bekommen. Bewegung ist übrigens nicht nur vorbeugend wichtig, um die Entstehung von Schmerzen zu vermeiden, sondern gerade auch dann, wenn die Schmerzen bereits eingetreten sind - eben um diese zu behandeln. Nichts wirkt stärker gegen Schmerzen des Bewegungsapparates als Bewegung und alle medizinischen Maßnahmen zielen eigentlich nur darauf ab, diese Bewegung zum Beispiel mit Unterstützung von Schmerzmedikamenten zu ermöglichen.