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Digitalisierung gegen Corona Daten teilen - besser heilen

Karteikarte und Faxgerät: Das deutsche Gesundheitssystem ist total verzettelt. Wäre seine Digitalisierung weiter, könnten wir längst mehr über Covid-19 wissen und so Menschenleben retten. Ein Weckruf.
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Martin Meissner/ AP

Von den Mitgliedern des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Ferdinand Gerlach, Wolfgang Greiner, Beate Jochimsen, Christof von Kalle, Gabriele Meyer, Jonas Schreyögg, Petra A. Thürmann.

 

Die Coronakrise wirkt wie ein Brennglas: Einige bereits zuvor bestehende Probleme im deutschen Gesundheitswesen treten besonders stark hervor. Dazu gehören:

  • die teilweise zu geringe Ausstattung mit Pflegekräften in Krankenhäusern und Pflegeheimen oder

  • unklare Zuständigkeiten und Strategien bei der gesundheitlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern.

Deutlich werden auch:

  • das nicht immer gut aufeinander abgestimmte Nebeneinander von Bund- und Länderkompetenzen im Gesundheitswesen,

  • unzureichend wissenschaftlich begründete Maßnahmen oder

  • die nicht ausreichende Vorhaltung von persönlicher Schutzausrüstung wie Mund-Nasen-Masken und Desinfektionsmitteln.

Nach Abschluss der Pandemie, spätestens im nächsten Jahr, müssen bestehende Schwachstellen systematisch analysiert und konsequent Lehren daraus gezogen werden.

Ad-hoc-Ratschläge für die Bewältigung der akuten Krise geben andere Experten und Gremien zur Genüge. Der Sachverständigenrat Gesundheit denkt gemäß seinem gesetzlichen Auftrag längerfristig und erarbeitet Vorschläge zur strukturellen Weiterentwicklung des Gesundheitsversorgungssystems.

In dieser Perspektive zeigt die Coronakrise bereits jetzt: Kurz- wie langfristig kommt der Digitalisierung der Prozesse im deutschen Gesundheitswesen eine Schlüsselrolle für den optimalen Schutz von Leben und Gesundheit zu.

Die derzeitigen Ansätze, das Mobilitätsniveau der Bevölkerung mit anonymisierten Handydaten zu ermitteln und mithilfe einer freiwilligen App Kontaktpersonen vor einer potenziellen Infektion zu warnen, weisen bereits in diese Richtung. Auch die Meldewege von Infektionsnachweisen und Genesungen an Gesundheitsämter und an das RKI könnten durch Digitalisierung schneller und weniger fehleranfällig gestaltet werden. Bedauerlicherweise sind in dem gesamten Bereich im letzten Jahrzehnt viele Chancen nicht genutzt worden.

Wie verschiedene Rankings zeigen, hinkt das deutsche Gesundheitswesen bei der Digitalisierung der internationalen Entwicklung weit hinterher. Die Bewältigung der aktuellen Krise wird dadurch unnötig erschwert. Das hohe Verantwortungsbewusstsein in Politik und Gesellschaft sowie die unermüdliche Einsatzbereitschaft aller in der Gesundheitsversorgung und Forschung scheinen uns zwar auf einen guten Weg gebracht zu haben, aber durch die Defizite in der Digitalisierung fahren wir darauf wie mit angezogener Handbremse.

Wenn wir heute schon (und nicht erst 2021) eine sektorenübergreifende elektronische Patientenakte hätten, könnte eine Identifikation und Information von Menschen mit erhöhtem Risiko wesentlich zielgenauer und schneller erfolgen. Auch könnten wir schneller die Frage beantworten, welche Menschen mit welchen Vorerkrankungen möglicherweise besonders gefährdet sind. Zusammengeführte Behandlungsdaten der an Covid-19 erkrankten Patientinnen und Patienten könnten dann wichtige Hinweise auf bislang unbekannte Zusammenhänge ergeben - etwa welche Medikamente wie Schmerzmittel oder Blutdrucksenker den Verlauf positiv oder negativ beeinflussen.

Auch werden in nicht unerheblichem Ausmaß bereits Medikamente außerhalb der Zulassung eingesetzt, da entsprechende Studien nur an wenigen Zentren laufen. Die Analysen der elektronisch verfügbaren Krankenhaus- beziehungsweise Patientenakten könnten wertvolle Hinweise liefern. Diesen wäre in sorgfältig geplanten Studien gezielt nachzugehen.

Die Diagnostik und Behandlung könnte auf der Basis digital verfügbarer Informationen zwischen Hausarzt, Facharzt und Krankenhaus besser abgestimmt sowie koordiniert werden, und die vorhandenen Kapazitäten könnten sofort dort genutzt werden, wo sie aktuell noch verfügbar sind. Dass in den vergangenen Wochen zunächst ein digitales Meldesystem aufgebaut werden musste, um freie Intensivbehandlungsplätze zu identifizieren, oder dass wochenlang nicht klar war, es zum Teil jetzt noch nicht ist, wie die schnelle wechselseitige Information zwischen denen erfolgen soll, die an der Versorgung von Menschen mit dem Coronavirus beteiligt sind, zeigt exemplarisch, wie schlecht der digitale Ausbauzustand in Deutschland noch ist.

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Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

Die im deutschen Gesundheitssystem ausgeprägte strukturelle Abschottung zwischen Kliniken und Praxen, der "Faxstandard" in der zwischenärztlichen Kommunikation und die noch überall verbreitete papiergebundene Karteikarte weisen darauf hin, dass die aktuelle Krise, etwa bei der unkoordinierten Versorgung von Pflegeheimen, auch eine Koordinationskrise in einem verzettelten System ist.

Nach Überwindung der Krise besteht dringender Handlungsbedarf. Die im letzten Jahr gestartete Digitalisierungsoffensive sollte zügig vorangetrieben und im Behandlungsalltag nutzbar werden. Die Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung, sich daran zu beteiligen, zeigt sich gerade in diesen Tagen, zum Beispiel bei der RKI-Initiative zur anonymisierten Nutzung von Fitnesstracker-Daten zu Forschungszwecken. Auch die begrüßenswerte Nutzung digitaler Werkzeuge (Apps), die es erlauben, Personen freiwillig und anonym, unter Einhaltung von Datenschutz sowie Persönlichkeitsrechten, zu informieren, wenn ein Kontakt mit einer infizierten Person stattgefunden hat, trifft auf eine erfreulich breite Akzeptanz.

Schon in der aktuellen Krise sollte umgehend die digitale telemedizinisch unterstützte Überwachung von Vitalparametern wie Körpertemperatur, Blutdruck, Herzschlagfrequenz erfolgen, ebenso wie die möglichst ambulant und mit einem Fingerclip nicht invasiv gemessene Sauerstoffkonzentration bei betroffenen Menschen. So werden nicht nur Krankenhäuser entlastet, Patientinnen und Patienten können gut überwacht zu Hause bleiben und werden davor geschützt, sich in Krankenhäusern anzustecken oder dort selbst andere zu infizieren. Auch könnte bei konkretem Verdacht ein ambulanter Test auf das Coronavirus vor Ort organisiert werden, um so eine sofortige Isolation möglicher oder nachgewiesener Infizierter einzuleiten. Dies gilt insbesondere für Pflegeheime, in denen viele Menschen mit hohem Risiko eng zusammen sind.

Auch wenn wir noch keine wirksame Therapie oder gar einen Impfstoff haben: Mit einer strukturiert vernetzten, digital unterstützten gesundheitlichen Versorgung aus einem Guss könnte vielen schneller und besser geholfen werden. Auch vielfältige Kollateralschäden der jetzt ergriffenen bevölkerungsweiten Maßnahmen - etwa nicht oder zu spät behandelte andere Erkrankungen - ließen sich so minimieren.

Die Krise ist ein weiterer wichtiger Anlass, die Nutzung qualitätsgesicherter digitaler Gesundheitsdaten für bessere Forschung und Versorgung in Deutschland und in der EU zu ermöglichen, verbunden mit den bestmöglichen Maßnahmen zum Schutz vor Repersonalisierung, Diskriminierung und Benachteiligung. Falsch verstandener Datenschutz darf dabei kein Tatenschutz sein und keine Menschenleben kosten.

Vernetzung ist das Gebot der Stunde. Daten sind auch im Kampf gegen Covid-19 ein scharfes Schwert. Die Chancen, die die Nutzung digitaler Gesundheitsdaten für den Schutz von Leben und Gesundheit der Menschen eröffnet, überwiegen bei Weitem die Risiken. Es wäre fahrlässig und ethisch bedenklich, diese Chancen nicht zu nutzen.

Zweifelsohne muss die Nutzung der Daten rechtlich und technisch gegen Missbrauch gesichert sein. Repersonalisierung, Diskriminierung und Benachteiligung müssen mit empfindlichen Strafen geahndet werden. Sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, halten wir es in einer Solidargemeinschaft von Versicherten sogar für geboten, Daten, die durch solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung zustande kommen, zugunsten des Wohls aller Patientinnen und Patienten, der aktuellen wie der zukünftigen, zu teilen.

Datenschutz geht so einher mit Patientenschutz: Patientinnen und Patienten haben ein Anrecht darauf, dass ihre Daten in der für sie hilfreichsten Weise ausgewertet werden. Wir sollten aufhören, uns den Unwillen oder die Unfähigkeit, Gesundheitsdaten im Sinne des Patientenwohls zu verwenden, als Datenschutz schönzureden. Diese überholte Sichtweise nimmt für eine nicht geringe Anzahl von Menschen schwere gesundheitliche oder gar tödliche Folgen billigend in Kauf.

Verantwortlich Daten zu teilen, heißt, besser heilen zu können - durch gezieltere Forschung und optimal vernetzte Gesundheitsversorgung.